Projekt Ikarus 02 - Im Zwielicht
folterte.
Jet sagte: »Ich werde vorsichtig sein. Aber beeil dich.«
»Verdammt, Joan! Du hast ihm noch nie gegenübergestanden. Warte auf mich. Ich kann –«
Wieder ein Schrei. Dieser jedoch verstummte abrupt.
Jet schaltete ihr Comlink auf weißes Rauschen um und holte tief Luft. Dann trat sie durch die offene Eingangstür.
Lage analysieren. Schnell nahm sie die Einzelheiten auf. Es war dunkel hier drin, aber das machte ihre Optibrille wett. Es roch nach Asche, nach blankem Entsetzen, nach aufgewirbeltem Staub. Der Empfangsbereich des Gebäudes mochte aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert stammen. Eine verlassene Pförtnerkabine. Linoleumfußboden, gebrochen und schmutzverkrustet, Wandverkleidung in Holzoptik, lange schon zernagt von Termiten und der Zeit selbst. Stille, wie in einem Grab. Und da vorn, etwas erhöht, zwei Gestalten. Sie wandten ihr den Rücken zu. Firebug und Steele.
Schlachtplan aufstellen. Keine Anzeichen von Bewegung, weder von ihren Kameradinnen, noch von Hypnotic, wo auch immer er sein mochte. Ganz klar eine Falle.
Konfrontation. »Firebug«, rief sie laut. »Steele. Ich bin hier, um euch zu helfen.«
Keine Reaktion von den beiden. Dann explodierte Licht vor ihren Augen. Ihre Brillengläser irisierten und schützten sie.
Jet wirbelte herum. Nichts.
»Ich bin hier, um meine Kolleginnen zu holen«, verkündete sie laut. »Ich bin nicht hier, um gegen Sie zu kämpfen.« Und das entsprach sogar der Wahrheit, verdammt, denn dafür war sie viel zu müde.
»Was du nicht sagst.« Die Stimme kam von überall und nirgends. Sie war von ihr umgeben, eingehüllt. »Und was bist du, dass du meinem schönen Licht keine Beachtung schenkst?«
Wieder wandte sie sich um, versuchte, ihre Frustration zu verbergen. Wo war Hypnotic? Vor ihr? Hinter ihr? Unmöglich zu sagen. »Ich bin Jet. Und ich ziehe den Schatten vor, nicht das Licht, so schön es auch sein mag. Was haben Sie mit meinen Kolleginnen gemacht?«
»Es geht ihnen gut«, erwiderte Hypnotic, und seine Stimme hallte an den Wänden wider. »Sie sind zufrieden. Das kannst du auch sein. Sieh einfach nur in das Licht.«
Erneut ein Aufleuchten vor ihrem Gesicht. Sie schlug es beiseite. Zumindest war es keine Hitzekugel wie bei Iridium. Genug geredet. Sie wandte sich ihren hypnotisierten Freundinnen zu, streckte den Arm aus und rief einen Schattencreeper. Er züngelte aus ihrer Hand hervor und schlängelte sich hinüber zu Firebug. Floss an ihr empor und wickelte sich um ihre Taille. Dann hinüber zu Steele, wo er das Gleiche machte. Jet zog. Keine der beiden Frauen bewegte sich. Es war, als seien sie auf der Stelle festgewachsen. Wie Statuen.
»Eine Schattenmacht«, sagte Hypnotic. Er klang erfreut. »Wie wunderbar! Du musst Nights Balg sein.«
Jet versteifte sich. »Er war mein Mentor.« Warum antwortete sie ihm? Halt die Klappe, Joannie. Liefere ihm keine Munition.
»Der Schatten liegt in den Genen. Deine Mutter oder dein Vater muss auch ein Schatten gewesen sein, Kleine.«
Mehr Licht flammte auf, so hell, dass sie ihre Schattenleine lockern und ihre Augen abschirmen musste.
»Sags mir. Wer von deinen Eltern ist ein Schatten?«
Gegen alle Vorsicht antwortete Jet: »Mein Vater.«
»Nicht Night?«
»Blackout.«
Das Licht verschwand und die Dunkelheit mit ihm. Hinter ihrem Rücken sagte Hypnotic: »Du bist Angelicas Tochter?«
Jet wirbelte herum und rief den Schatten.
»Lass das«, sagte Hypnotic. »Du bist nicht hier, um zu kämpfen, hast du gesagt. Dann kämpfe nicht.«
Jet wurde bewusst, dass sie den Arm herunternahm. Verflucht, reiß dich zusammen, foan! Sie ballte die Hand zur Faust. »Lassen Sie meine Freunde gehen!«
»Was? Oh ja. Aber gewiss doch.« Er starrte sie an, dieser hochgewachsene Mann mit dem Körper eines Erdmächtigen unter der grauen Gefängniskleidung, dem schwarzen Haar, in das sich Sprenkel von Weiß mischten. »Aber zuerst erzählst du mir von deiner Mutter. Wie geht es ihr?«
»Tot«, presste Jet hervor.
Die Augen des Mannes weiteten sich, und zu Jets Überraschung trat echte Trauer in seinen Blick. »Das tut mir so leid«, sagte er, und es klang aufrichtig. »Wie ist das passiert?«
»Lassen Sie meine Freunde gehen, und ich gebe Ihnen mit Freuden einen kleinen Abriss unserer Familiengeschichte.«
Der Mann durchbohrte sie mit seinem Blick. »Nimm die Brille ab und schlag die Kapuze zurück. Ich will dein Gesicht sehen.«
»Lassen Sie meine Freunde gehen«, wiederholte Jet.
»Ja, ja.
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