Projekt Wintermond
Waffe neben die Brieftasche. Ein paar Minuten starrte er nachdenklich auf den Inhalt des Rucksacks.
Schließlich nahm er die Brieftasche und klappte sie mit der Klinge des Taschenmessers vorsichtig auf. Caruso staunte. Es war gar keine Brieftasche, sondern der Schutzumschlag eines Reisepasses. Als er die Seiten durchblätterte, klopfte es an der Tür, und der Korporal steckte den Kopf ins Zimmer. »Signor McCaul ist da, commissario.«
»Geben Sie mir fünf Minuten, bevor Sie ihn zu mir bringen.«
Caruso saß auf der Schreibtischkante und blickte dem gut aussehenden jungen Mann, der ihm gegenübersaß, ins Gesicht. Chuck McCaul schaute auf den Inhalt des Rucksacks, den Caruso auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte.
»Waren diese Sachen in dem Rucksack, Sir?«
»Si.«
»Kann ich es mir genauer ansehen?«
»Ja, aber fassen Sie bitte nichts an.«
Besonders die Pistole erregte McCauls Interesse.
»Mann, das ist ja Wahnsinn! Der vereiste Leichnam im Gletschereis, die Waffe und die Dokumententasche… sehr seltsam.«
Caruso nickte. »Allerdings. Wer weiß, was wir noch alles entdecken, wenn wir den Leichnam untersuchen. Mein Englisch ist nicht besonders, Signore. Ich habe nicht oft Gelegenheit, diese Sprache zu sprechen. Erzählen Sie mir bitte, wie Sie den Toten gefunden haben.«
»Ich habe Wachtmeister Barti schon alles gesagt.«
»Dann sagen Sie es mir bitte noch einmal.«
McCaul berichtete alles, was er erlebt hatte. Caruso hörte ihm aufmerksam zu. »Sie haben bestimmt einen mächtigen Schrecken bekommen, was?«
»Ehrlich gesagt, Sir, habe ich mir vor Angst fast in die Hose gemacht.«
»Zum Glück haben Sie es geschafft, lebend aus der Gletscherspalte herauszukommen. Haben Sie außer dem Rucksack noch etwas gefunden?«
»Nein, Sir.«
»Wirklich nicht?«
»Mein Vater ist Privatdetektiv. Ich würde der Polizei niemals Beweismaterial vorenthalten, Sir.«
Caruso nickte. Vermutlich sagte der junge Mann die Wahrheit. »Tut mir Leid, dass ich Ihnen Ihre kostbare Zeit gestohlen habe, aber ich wollte persönlich mit Ihnen sprechen. Jetzt will ich Sie aber nicht länger aufhalten. Wann verlassen Sie die Schweiz?«
»In vier Tagen.«
»Gut. Danke, das war dann alles, Signore.«
McCaul stand auf. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Nur zu.«
»Was ist das für eine Geschichte? Wer ist dieser Mann im Eis?«
»Die Identität kann erst festgestellt werden, wenn der Leichnam obduziert wurde. Laut Reisepass, den ich im Rucksack gefunden habe, müsste es sich um einen Amerikaner namens Paul March handeln.«
8
New York
Der hoch gewachsene Leroy Murphy beugte seinen stämmigen Körper über den Rollstuhl und zog behutsam den Hörer des Sony-CD-Walkman von Bobbys Kopf. Sie hielten sich im Wintergarten des Cauldwell-Pflegeheims auf. Die Türen waren geöffnet. Eine kühle Brise wehte in den warmen Raum, in dem sich Jennifer, Bobby und Leroy, der Pfleger, aufhielten. Leroy trug einen Kittel mit kurzen Ärmeln, dessen Stoff sich über seinen kräftigen Armmuskeln spannte, als er sich vorbeugte. Die pechschwarze Haut seiner dicken Arme bildete einen augenfälligen Kontrast zum weißen Baumwollstoff.
Bobby saß im Rollstuhl. Sein Kopf war zu einer Seite geneigt. Aus den Mundwinkeln rann Speichel, den Jennifer mit einem Papiertaschentuch abwischte. Dann zog sie einen Kamm aus der Tasche und kämmte das Haar ihres Bruders.
»Okay. Er hatte jetzt genug Abwechslung«, sagte Leroy.
»Wahrscheinlich hätte er jetzt Lust zu tanzen. Fragestunde, Bobby. Die Michael-Jackson-Session wird kurz unterbrochen. Bobby mag Michael, nicht wahr?«
Bobby nickte. »Er ist ein kluger Bursche«, sagte Leroy lächelnd. »Er weiß mehr über Musik als jeder andere. Stimmt’s, Bobby? Lass es uns Jenny mal beweisen. Okay?«
Bobby grinste gequält und nickte abermals. Leroy legte den Block auf Bobbys Schoß und drückte ihm einen Stift in die Hand.
»Und los geht’s. Der Song heißt Closer Than There. Sag uns den Sänger und das Jahr.«
Bobby presste den Stift zwischen Daumen und Zeigefinger und kritzelte auf das Blatt: Rosie Gaines.
»Und von wann ist der Song? Lass mich jetzt nicht hängen!«
Bobby schrieb: 1997.
»Weiter. Jetzt kommt eine schwierige Frage. Coolio hatte eine Nummer eins, die sich in einem Jahr vier Wochen lang in den Charts hielt. Wie heißt der Song? Na? Deine Schwester wird staunen.«
Bobby zögerte einen Moment. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. Zwei Minuten später kritzelte er mit einem
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