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Projekt Wintermond

Projekt Wintermond

Titel: Projekt Wintermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Meade
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können.«
    Caruso stellte sich auf den wackeligen Stuhl und richtete den Strahl der Lampe gegen die Eiswand. Als er die Leiche sah, fuhr ihm der Schreck durch Mark und Bein. Das Gesicht des Mannes starrte ihm aus dem steinharten Eis entgegen.
    »Mein Gott!«
    »Da kriegt man das kalte Grausen, nicht wahr? Das Eis hat dieselbe Wirkung wie eine Tiefkühltruhe. Der Leichnam wurde offenbar bestens konserviert.«
    Caruso schaute fröstelnd auf den Toten. »Und was ist daran so seltsam?«
    »Ich habe sämtliche Vermisstenanzeigen von Personen in diesem Teil der Alpen überprüft. Alle wurden gefunden, entweder tot oder lebendig. Die Schweizer sagen dasselbe.«
    »Wie weit zurück haben Sie die Vermisstenmeldungen überprüft?«
    »Zwanzig Jahre. Die Schweizer Kollegen ebenfalls.«
    Caruso betrachtete den gefrorenen Kopf. Nase und Lippen, Ohren und Wangen, das dunkle, gewellte Haar, das auf der Stirn klebte – alles war deutlich zu erkennen. Caruso richtete den Lichtstrahl auf das Gesicht des Mannes. Der Anblick verwirrte ihn. Die Haut war alabasterweiß, die Augen weit aufgerissen. »Wie lange, glauben Sie, liegt die Leiche schon hier?«
    »Das kann ich erst sagen, wenn wir sie aus dem Eis geschlagen haben und sie bei mir auf dem Obduktionstisch liegt. Auf jeden Fall schon sehr lange. Kennen Sie sich mit Gletschern aus, commissario?«
    Caruso schüttelte den Kopf. »Genauso gut wie mit Frauen nach dreißig Jahren Ehe.«
    Rima zeigte schmunzelnd nach oben zum Spaltenrand, durch den ein dünner Lichtstrahl in die Gletscherspalte und auf die blauweißen Eiswände fiel. »Die Schlucht ist zehn Meter tief. Die Leiche liegt ungefähr zwei Meter über dem Boden. Die Bildung des Gletschereises hängt von Regen und Schnee ab. Es ist ein ewiger Kreislauf. Jahr für Jahr bildet sich neues Eis, und Jahr für Jahr schmilzt ein Teil ab und fließt in die Täler.« Rima zuckte mit den Schultern. »Die Leiche muss ziemlich lange hier gelegen haben. Vielleicht sogar einige Jahre.«
    »Sind Sie fertig?«
    Rima rieb sich die eiskalten Hände. »Fast. Jetzt müssen wir unseren Freund aus dem Eis schneiden. Wir brauchen eine Kettensäge.«
    »Ich muss mit diesem Amerikaner sprechen. Wo ist er?«
    »Einer meiner Männer holt ihn in seinem Schweizer Hotel ab«, erklärte Barti. »Wir stellen Ihnen auf der Wache ein Büro zur Verfügung.«
    »Gut. Sind alle erforderlichen Fotos gemacht worden?«
    »Ja. Wir haben alles, was wir brauchen.«
    Caruso schaute noch einmal auf das Gesicht der Eisleiche, ehe er vom Stuhl stieg. »In Ordnung. Ich hab genug gesehen. Kommen Sie. Wir steigen wieder nach oben.«

    Vom Büro in der Karabinieri-Wache in Varzo konnte man auf einen kleinen Park blicken. Caruso setzte sich an den Schreibtisch neben dem Fenster, wo er gutes Licht hatte. Er streifte ein Paar Einweg-Gummihandschuhe über, nahm den Plastikbeutel in die Hand und zog den schweren Rucksack heraus. Das Eis war geschmolzen, der Leinenstoff nass und aufgeweicht.
    Caruso hatte es auf der Rückfahrt vor Neugier kaum ausgehalten. Jetzt kribbelte es ihm förmlich in den Fingern. Er zog sein Schweizer Taschenmesser heraus und versuchte, das Schnappschloss aufzubrechen, jedoch vergeblich. Kurz entschlossen nahm er den Hörer ab und rief unten an der Pforte an. »Hätten Sie vielleicht einen großen Schraubenzieher für mich?«
    »Bitte? Wer spricht denn da?«
    »Commissario Caruso. Ich brauche einen stabilen Schraubenzieher.«
    »Ich schau mal, was ich für Sie tun kann.«
    Fünf Minuten später klopfte es an der Tür. Ein Korporal brachte Caruso das Gewünschte. Der Schraubenzieher sah beinahe wie ein Mordinstrument aus. »Kommen Sie damit klar?«
    »Wenn nicht, brauche ich Dynamit. Danke.«
    Caruso klemmte sich den Rucksack zwischen die Beine und machte sich mit dem Taschenmesser und dem Schraubenzieher am Schloss zu schaffen. Es kostete einige Mühe, doch beim dritten Versuch sprang es auf. Der commissario öffnete den Rucksack, der den strengen Geruch des alten, feuchten Segeltuches verströmte.
    Auf den ersten Blick sah er nur Kleidungsstücke: einen Mantel, einen Anzug, ein Hemd und eine Krawatte. Dazwischen lagen Lacklederschuhe. Unter den Sachen fand er eine automatische Browning-Pistole und eine dünne Lederbrieftasche. Die Pistole zeigte kaum Rostspuren und schien gut erhalten zu sein. Caruso zog die Brieftasche heraus und legte sie auf den Schreibtisch. Als Nächstes schob er die Klinge des Taschenmessers in den Abzugsbügel der Pistole und legte die

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