Projekt Wintermond
dass Bobby nicht nur wegen des Geburtstags seiner Mutter so aufgeregt war. Er nahm ihn sozusagen zum Anlass, andere Wünsche vorzubringen. Tatsächlich streckte er die Hand aus und forderte den Block zurück. Manchmal regte ihn die komplizierte Art der Verständigung schrecklich auf, und heute war so ein Tag. Auf seinem Gesicht bildeten sich Schweißperlen. Feuchte Haarsträhnen klebten auf seiner Stirn. Er kniff die Lippen zusammen und hob die Augenbrauen, während er auf das Blatt schrieb. Als er fertig war, hob er den Blick.
Jennifer las die Nachricht. Ich will weg hier. Die Leute hier sind nett, aber nicht meine Familie.
Sie sah ihrem Bruder in die Augen. »Wir wissen doch beide, wohin das führt.«
Bobby seufzte tief und antwortete ihr diesmal in der Zeichensprache. Er zeigte zuerst mit dem Finger auf sich und dann auf seine Schwester, worauf er zwei Finger kreuzte. Jennifer wusste genau, was er wollte. Ich will mit dir zusammen leben. Immer.
»Darüber haben wir uns doch tausendmal verständigt, Bobby. Ich liebe dich, und ich würde gern mit dir zusammenleben. Am Wochenende bist du ja auch meistens bei mir. Aber die Woche über nimmt mein Job mich voll und ganz in Anspruch. Ich komme oft erst spät nach Hause. Was ist, wenn du Hilfe brauchst?«
Sie hatten es schon mehrere Male versucht. Das letzte Mal hatte das Pflegeheim zugestimmt, dass Bobby versuchsweise zwei Monate bei Jennifer lebte. Jennifer hatte eine Tagespflege organisiert, die Bobby in ihrer Wohnung betreute. Das war teuer, aber unumgänglich. Die Frau kümmerte sich um sämtliche Bedürfnisse ihres Bruders und gab auf ihn Acht, während Jennifer arbeitete.
Eines Tages jedoch erhielt sie einen Anruf von der Pflegerin. Bobby hatte einen Unfall erlitten und lag im St. Vincent’s Hospital.
Als die Pflegerin kurz Besorgungen gemacht hatte, war Bobby mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss und hinaus auf die Straße gefahren. Die Pflegerin stand im Laden, als sie den Jungen in seinem Rollstuhl vorbeifahren sah. Sie rannte sofort hinter ihm her, doch Bobby beschleunigte das Tempo. Einen halben Block entfernt überschlug er sich, fiel aus dem Rollstuhl und schlug mit dem Kopf aufs Pflaster. Er entging nur knapp den Reifen eines Lieferwagens, der in letzter Sekunde auswich.
Dieses Abenteuer brachte ihm fünfzehn Stiche ein. Bobby teilte seiner Schwester mit, dass er sich gelangweilt habe. Doch Jennifer kannte die wahre Antwort: Ihr Bruder wollte das Gefühl von Freiheit kosten. Bobby versprach, in Zukunft auf derartige Eskapaden zu verzichten. Doch einen Monat später büxte er wieder aus und verschwand für vier Stunden. Die Polizei fand ihn in einem Park. Er saß glücklich auf einer Bank und beobachtete mehrere Mädchen in seinem Alter, die auf Rollerblades Runden drehten.
Die Pflegerin kündigte. Sie hatte keine Lust, die Verantwortung für etwaige Verletzungen ihres Schützlings oder gar einen tödlichen Unfall zu übernehmen. Obwohl Jennifer die Pflegerin nicht besonders gemocht hatte, ließ sie die Frau nur ungern gehen. Zwar fand sie schnell einen Ersatz, doch kurze Zeit später kam es zu einem weiteren Zwischenfall: Aus einer Flasche Wodka, die er in Jennifers Wohnung fand, trank Bobby ein großes Glas. Angesäuselt, wie er war, wollte er erneut verschwinden, fiel aber die Treppe hinunter. Obendrein belästigte er die neue Pflegerin, eine hübsche junge Mexikanerin mit beachtlicher Oberweite. Die Frau behauptete sogar, Bobby habe sie vergewaltigt, was aber nicht den Tatsachen entsprach. Er verlor mitunter bloß die Nerven, weil er an den Rollstuhl gefesselt war. Gewalttätig wurde er nie. Als Jennifer ihn fragte, warum er versucht habe, der Pflegerin in die Brust zu kneifen, wurde er rot und schrieb auf seinen Block: Wollte mal wissen, wie sich das anfühlt.
Im Nachhinein amüsierte Jennifer sich darüber. Man vergaß nur allzu schnell, dass ihr Bruder die ganz normalen Wünsche und Bedürfnisse eines jungen Mannes in seinem Alter hatte. Trotzdem musste sie nach dieser Episode den Tatsachen ins Auge sehen. Die Agentur weigerte sich, Jennifer eine neue Pflegerin zu vermitteln. Das Cauldwell-Pflegeheim hielt Bobbys Rückkehr für angebracht.
Jennifer verscheuchte diese Erinnerungen und beobachtete ihren Bruder. Er schrieb wütend auf den Block und reichte ihn ihr.
Vielleicht solltest du endlich heiraten.
Jennifer hätte am liebsten laut gelacht. »Das ist doch nicht dein Ernst?«
Bobby warf den Kopf zurück und signalisierte ihr ein
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