Promenadendeck
»Was fällt Ihnen ein? Ich komme zurück und esse weiter! Was ist das für eine dumme Frage? Setzen!«
Verwirrt starrte der Steward der wegtrippelnden alten Dame nach. Ihr Mann ist tot, und sie ißt weiter? Das gibt's doch nicht!
Der Obersteward-Stellvertreter, der für das betroffene Revier zuständig war, drehte sich nach allen Seiten und lächelte etwas krampfhaft. »Keine Aufregung, meine Herrschaften!« rief er. »Nur ein kleiner Schwächeanfall. Bitte, lassen Sie sich bei Ihrem Essen nicht stören. Es ist wirklich nichts …« Er brach ab, weil man seiner Stimme anmerken konnte, daß er log, und eilte hinaus zum Sonderbüro vor dem Speisesaal. Hier umstanden Dr. Paterna, Schwester Erna und die Stewards die leblose Gestalt auf der Theke und warteten auf die Trage aus dem Hospital. Alma Richter betrachtete ihren Mann voller Interesse.
»Nein, so was!« sagte sie ganz ruhig. »Hält einen Vortrag über die Steinfiguren auf der Osterinsel, fällt mit dem Kopf auf den Tisch und ist tot. Er ist doch tot, Herr Doktor?«
»Ja. Darf ich ihnen mein Beileid aussprechen.«
»Danke.« Keine Tränen, kein stilles Weinen, keine Erschütterung, keine Regung, nur nüchterne Bestandsaufnahme. »Was geschieht jetzt mit ihm? Wird er im Meer versenkt?«
»Aber nein, gnädige Frau! Wie kommen Sie denn darauf?« Dr. Paterna legte ein Tischtuch über den Toten.
»Ich habe gelesen, auf See ist das so.«
»Früher einmal, ja. Da konnte man keine Toten transportieren. Wir haben hier an Bord eine Tiefkühlkammer und isolierte Särge und können jeden Verstorbenen mitnehmen bis zum nächstmöglichen Jet nach Deutschland.«
Alma Richter drehte sich von dem Toten weg und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und wandte sich noch einmal um.
»Mein Mann hat bis Sydney gebucht und bezahlt. Das möchte ich ausdrücklich feststellen.«
Sie öffnete die Tür und wollte gehen, doch eine Frage Paternas hielt sie zurück: »Wo möchten Sie denn jetzt hin?«
»Ins Restaurant natürlich.« Ihre Stimme war nüchtern und kein bißchen belegt. »Mein Dinner wird doch kalt. Guten Abend!«
Niemand antwortete ihr. Betroffenheit und Sprachlosigkeit breiteten sich aus. Durch die große Glastür sahen alle, wie Alma Richter in das Restaurant zurückging, als sei sie eben mal schnell auf dem WC gewesen.
Sie setzte sich an ihren Tisch, ignorierte die Blicke der entsetzten anderen Passagiere, bei denen sich die Wahrheit inzwischen herumgesprochen hatte, und winkte dem konsternierten Tischsteward.
»Sie können mit dem Servieren fortfahren. Und eine neue Flasche Rosé, wie bisher. Nach dem Dessert noch ein Kännchen starken Kaffee.«
In aller Ruhe und mit gutem Appetit aß Alma Richter dann weiter. Die empörten Blicke der anderen Gäste störten sie nicht. Nach dem Kaffee raffte sie ihre Früchte zusammen und trippelte aus dem Restaurant.
»So etwas sollte man sofort erschlagen!« sagte ein sichtlich vornehmer Gast unverblümt laut. Seine Frau zupfte ihn verlegen am Ärmel und wurde tief rot.
Aber es gab niemanden, der ihm widersprach; in diesem Augenblick dachten viele so. Nur Dr. Schwarme beugte sich über den Tisch und blickte seine Frau Erna böse an.
»So wird's mir auch ergehen«, zischte er. »Gott sei Dank ist der Alte tot – wirst du denken!«
»Nicht nur das!« zischte sie zurück. »Ich werde mein Abendkleid anziehen und mit Champagner feiern. Und dann gehe ich mit meinem Liebhaber ins Bett. Ein Festtag!«
»Aber ich lebe noch lange!« entgegnete Dr. Schwarme hämisch. »Es ist sogar möglich, daß ich dich überlebe.«
Die versteckte Warnung hinter diesen Worten hörte Erna Schwarme nicht heraus. Sie schüttelte bloß den Kopf und lachte provozierend.
Kapitän Teyendorf, der sofort von dem tödlichen Herzanfall Ulrich Richters verständigt worden war, hatte für die Meldung nur ein tiefes Seufzen übrig. »Mir bleibt auf dieser Reise auch gar nichts erspart«, klagte er Dr. Paterna seine Situation. »Was sich sonst über Jahre hinweg auf viele andere Schiffe verteilt, das bekomme ich jetzt auf einen Schlag präsentiert.«
Dr. Paterna ließ Ulrich Richter in den Sarg legen, rollte ihn dann in den Kühlraum und blickte noch einmal in das bleiche, im Tode rätselhaft verklärte und verjüngte Gesicht des Verstorbenen. Ein schöner alter Mann, dem der Tod die Runzeln glättete.
Er schloß die Tür der Tiefkühlkammer und fuhr hinauf zum Atlantikdeck. Kabine 361. Herr und Frau Richter. Er klopfte an die Tür, hörte keine Antwort
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