Promenadendeck
Belästigung des Doktors; er schluckte statt dessen mitgenommene Tabletten gegen zuviel Magensäure und verzichtete auf den Tischwein. Am Abend vor der Osterinsel – man sollte sie um 7 Uhr morgens erreichen, auf Reede gehen und dann ausbooten – sagte er zu seiner Frau Alma: »Für die riesigen Steinfiguren auf der Insel gibt es auch noch andere Deutungen, es müssen nicht Götterbilder oder Ahnenkult sein.«
»Welche Deutungen?« fragte Alma kurz und löffelte ihre Vorspeise. Tomatensuppe mit Gin und Sahnehaube.
»Ich habe mir folgendes gedacht: Die Leute dort lebten in völliger Isolierung. Stell dir das vor, seinerzeit, vor Hunderten von Jahren. Jetzt kommen ja die Touristen; sogar einen Flughafen mit Graspiste haben sie – aber damals? Trostlos muß das gewesen sein. Und was macht man, wenn die Langeweile einen auffrißt? Man stellt etwas an, um den Nachbarn zu ärgern. So muß einer einmal einen der Steinköpfe aus dem Vulkangestein geschlagen haben, was den Neid und den Ehrgeiz des ganzen Volkes schürte, und so begann jeder, aus dem Vulkan seine Figur zu hauen, immer größer als die des Nachbarn, ein Wettstreit aus Langeweile: Wer hämmert den größten Moai? Als es nicht mehr größer ging, verloren alle die Lust. Ende der angeblichen Kultur.« – Er sah seine suppelöffelnde Frau beifallheischend an. »Was sagst du dazu?«
»Idiotisch. Setzen, Ulrich!«
Ulrich Richter kraulte sich seinen Schnauzbart und war beleidigt. Wenn Alma etwas nicht gefiel, sagte sie immer im Lehrerton: »Setzen!« So, als stünde sie vor einem Schüler, der gerade eine mangelhafte Leistung gezeigt hatte. Ein Gespräch war dann meistens nicht mehr möglich. »Setzen!« war endgültig.
»Aber es könnte so gewesen sein, nicht wahr?«
»Nein.«
»Warum nicht? Weißt du es besser? Als du Geschichts- und Geographieunterricht gegeben hast, gehörten die Moais noch zu den Weltwundern. Erst Thor Heyerdahl …«
»Du bist nicht Heyerdahl und hast kein Kon-Tiki-Floß. Physiker werden Mysterien nie begreifen, dazu sind sie zu nüchtern.«
Es war die längste Rede seit acht Tagen, die Alma Richter gehalten hatte. Ulrich sah sie verwundert, ja geradezu verblüfft an, wollte eine Entgegnung formulieren, öffnete den Mund, griff sich plötzlich ans Herz, gab einen ganz merkwürdigen, gurgelnden Laut von sich und kippte mit dem Gesicht nach vorn auf den Tisch, millimeterbreit nur von der Tomatensuppe entfernt.
Ein wenig befremdet, legte Alma den Löffel hin, tippte ihren Mann gegen den Scheitel und sagte tadelnd: »Benimm dich, Ulrich! Hast wohl wieder heimlich getrunken, was? Am Tag zwei Gläschen trockenen Weißwein, das weißt du doch. Nicht mehr. Ulrich …«
Ulrich Richter gab keine Antwort mehr. Der Tischsteward kam an den Tisch und blickte besorgt auf den alten Mann.
»Kann ich helfen? Ist Ihrem Gatten schlecht geworden? Soll ich den Arzt rufen?«
Von den Nebentischen starrte man interessiert und betroffen herüber. Ulrich Richter rührte sich noch immer nicht, auch als der Steward ihn berührte und leicht schüttelte. Er war offensichtlich ohne Besinnung.
Auf einen Wink hin hatte der Obersteward-Stellvertreter bereits zum Telefon gegriffen und in der Offiziersmesse angerufen. Dr. Paterna kam sofort in den Speisesaal, sagte vorsorglich zu Alma Richter: »Keine Aufregung, gnädige Frau. Das kommt öfter vor. Ein kleiner Schwächeanfall, Klimawechsel und ähnliche Faktoren …« und beugte sich über Ulrich Richter. Schon der erste Blick sagte ihm, daß da nicht mehr zu helfen war. Die Blässe im Gesicht, die starren Augen, die blutleeren Lippen …
»Sofort die Trage aus dem Hospital!« sagte Paterna zu den herumstehenden Stewards. »Faßt mit an, wir bringen ihn zunächst ins Sonderbüro.« Und zu Alma Richter gewandt: »Bitte, kommen Sie mit!«
»Mein Essen wird kalt«, entgegnete Alma und blieb sitzen. »In zehn Minuten ist alles, als wäre nichts gewesen.«
»Das glaube ich nicht, gnädige Frau, ich halte es für dringend erforderlich, daß Sie uns begleiten.«
Vier Stewards trugen den Leblosen schnell aus dem Restaurant hinüber ins Sonderbüro der Zahlmeisterei, legten ihn dort auf die Theke und bildeten nebeneinander einen Sichtschutz gegen Neugierige. Alma Richter erhob sich unwillig, löffelte im Stehen noch die Tomatensuppe aus und folgte dann erst Dr. Paterna. Der zuständige Tischsteward fragte teilnehmend: »Ich kann Ihr Dinner abbestellen, gnädige Frau?«
Wie mit Gift bespritzt, fuhr Alma Richter herum:
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