Prophetengift: Roman
abläuft. Ich bin ganz durcheinander, weil ich dich noch heute Morgen für den arrogantesten, langweiligsten Typen gehalten habe, mit dem ich je ein erbärmliches Date hatte, und jetzt habe ich das Gefühl ...« Sie schüttelte den Kopf und schaute hinaus auf die von Lichtern funkelnde Küstenlinie. »Wenn ich etwas gelernt habe, dann, die Dinge langsam angehen zu lassen.« Sie wandte den Blick ab. »Und ich sollte dir wohl sagen, dass ich ein Problem damit habe, Männern zu vertrauen.«
Er berührte ihre Hände. »Damit kann ich umgehen.«
»Dann kann ich das wohl auch. Aber warum willst du denn mit einem ganz normalen Menschen zusammen sein – und dazu noch mit einer Frau, die unter einer Essstörung leidet? Ich dachte, du suchst nach Superfrau – oder Supermann.«
»Ich weiß, du machst Witze«, antwortete Sebastian. »Aber darf ich ehrlich zu dir sein?«
»Bitte.«
»Seit ich mich erinnern kann, habe ich das Gefühl – vermutlich, weil Kitty es mir eingeredet hat –, anders zu sein als alle
anderen. Besser als alle anderen, so furchtbar das auch klingt. Aber jetzt beginne ich langsam zu glauben, dass ich irgendwo hingehöre ... und dieses Gefühl gefällt mir sehr.«
»Und wie passe ich da hinein?«
»Durch dich ... fühle ich mich menschlich. Verletzlich. Und so sehr mir das auch Angst macht – es ist aufregend, weil ... ich mich noch nie so gefühlt habe.«
Reed unterdrückte ein Kichern. »Das ist so süß.« Doch als sie Sebastians gekränkten Gesichtsausdruck sah, bedauerte sie ihre Antwort. »Ich meine, manchmal wirkst du so reif, und dann wieder fällt mir ein, dass du noch immer ein Teen ...«
Sebastians iPhone pingte. Er streckte reflexartig die Hand danach aus, hielt dann aber inne.
Ihre Blicke trafen sich.
»Nur zu«, sagte Reed. »Du hast meine Erlaubnis.«
»Lass mich nur eben diese E-Mail checken. Okay? Ich warte auf irgendwas Wichtiges; ich habe schon den ganzen Tag so ein seltsames, ungutes Gefühl.«
Reed schwieg und aß weiter ihre Tortellini, während Sebastian sein Handy hervorzog und seine E-Mails checkte.
Die Nachricht von Kitty war kurz, aber Sebastian kam es vor, als habe er sein ganzes Leben lang darauf gewartet.
Ein Mann, der behauptet, dein Vater zu sein, hat sich bei mir gemeldet. Ich habe mich mit ihm getroffen. Er hat mir eine Mail geschickt, die ich an dich weiterleiten soll, aber seine Mail-Adresse gebe ich dir erst, wenn du nach Hause kommst. Wir warten beide. Kitty.
33
Tags darauf jagte Sebastian in halsbrecherischem Tempo zurück nach L.A. Selten fuhr er mit seinem Porsche Cayenne langsamer als neunzig Meilen pro Stunde, und oft bewegte sich die Tachonadel im dreistelligen Bereich, während die große silbermetallicfarbene Geländelimousine an den Mandelplantagen und Weinbaugebieten, den Viehhöfen und Kornfeldern Zentralkaliforniens vorbeiraste.
Und während dieser ganzen Zeit drehten sich seine Gedanken noch schneller als die Räder unter ihm.
Die innere, fast panische Unruhe hatte sich am Vorabend eingestellt, mit den Vorahnungen, die seinen Abend auf dem Boot mit Reed fast ruiniert hätten. Als er dann Kittys E-Mail mit der angehängten Nachricht von Chuck überflogen hatte, beschloss er, Reed nicht darüber aufzuklären, was er soeben gelesen hatte – zumindest vorerst nicht. Stattdessen setzte er alles daran, die Nachricht zu ignorieren, während er gleichzeitig sein Bestes gab, Reed zu schmeicheln, sie ins Gespräch zu ziehen und dafür zu sorgen, dass sie das Gefühl bekam, die einzige Frau auf der Welt zu sein.
Und es hatte geklappt. Er sah, wie Reeds Haltung und ihr Gesichtsausdruck sich im Laufe des Abends von en garde zu entspannt veränderten.
Doch den ganzen Abend hindurch plagte ihn eine Kaskade von Fragen. Wie sah dieser Chuck aus? Hatte er einen Job? Besaß er die gleiche telepathische Begabung wie er, Sebastian? Wo
hatte er sich die ganze Zeit versteckt? War er ein Arsch, der ein schwangeres Mädchen im Stich gelassen hatte, oder hatte Kitty ihn im Dunkeln gelassen? War er ein gütiger, liebevoller, erfolgreicher Mann, zu dem er unter Umständen aufschauen konnte? Und war er tatsächlich sein Vater oder noch so ein Spinner, der es auf ein wenig Geld und viel Aufmerksamkeit in den Medien abgesehen hatte ... oder hatte Kitty das alles nur eingefädelt, um ihn nach Hause zu locken?
Am Ende des Abends – er spürte intuitiv, dass seine Verfolger nirgends in der Nähe waren – begleitete er Reed wieder zurück den Hang
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