Prophezeiung
er andernfalls verschwunden war und wo er sich jetzt aufhielt. Beck hegte zwar, anders als Philipp, keine Rachegelüste, war aber sicher, dass Eisele ein paar Fragen beantworten konnte. Und zwar möglichst bevor Philipp ihn in die Finger bekam.
Aber was das betraf, steckte Beck genauso fest wie in Sachen Gerrittsen. Denn um das Computersystem des New York oder das der Uni Rotterdam oder gleich das der Polizei vor Ort zu »hacken«, brauchte er entweder ausreichend Zeit an einem leistungsfähigen, mit den entsprechenden Programmen ausgerüsteten Rechner – oder eben einen fähigen Helfer, nämlich Oskar. Und der hockte seit Miletts dummer Rede und der noch viel dümmeren Verunglimpfung des Kommandos Diego Garcia wie festgeschraubt vor seinem PC , genauso wie alle anderen Gaias, und programmierte, schnitt und designte an den nächsten Episoden der SOS -Saga herum, motiviert und angefeuert vom stolzen Feldherrn persönlich, dem zwischen den Schreibtischen hin- und herschreitenden Diego.
Beck hatte Oskar in der Küche abgefangen, als der sich den cirka hundertsten Kaffee dieses Morgens mit zitternden Fingern aus der Kanne in einen Becher goss, aber der sanfte kleine Nerd hatte bloß entschuldigend die Achseln gezuckt und ihm versichert, er sei »sozusagen schon dran« am New York. Gleich. Bald. Gib mir noch eine Stunde oder zwei. Sobald der dritte Teil online ist.
Und das war das nächste Problem. Die SOS -Filme. Hergestellt von begabten Ex-Werbern, die trotz ihres Wechsels auf die »richtige« Seite nicht vergessen hatten, wie man Wirkung erzielte und sein Produkt verkaufte, mit geeigneten Bildern, Tönen, Farben und Schnittfolgen, die Emotionen hervorriefen. Nur dass sie diesmal kein Produkt zu verkaufen hatten. Sie hatten nichts weiter anzubieten als die Emotionen selbst, genauer gesagt nur eine einzige Emotion: Angst.
Beck wusste ganz genau, was er tun und sagen musste. Diego stoppen. Dazu bedurfte es nur eines kurzen, aber deutlichen Vortrages, den er die ganze Zeit in seinem Kopf widerhallen hörte.
Hast du Augen im Kopf, Diego? Guck auf die Zugriffszahlen – die ganze Welt sieht sich eure Armageddon-Filme an, die ganze Welt hat Angst . Niemand hört auf Miletts beruhigende, geschliffen formulierte Warnung, du hast gewonnen! Die ganze Welt setzt sich in Bewegung, die Welt flüchtet! Niemand wird auf die Presse hören, auf den korrupten Mainstream, diesmal habt ihr gewonnen, ihr, die Kleinen, die Revoluzzer, der Untergrund. Die Menschen fangen an zu wandern, sie haben Angst. Sie flüchten aus dem Norden, ans Mittelmeer, weil sie hoffen, dort nicht zu ersaufen. Und sie flüchten aus den Wüsten, ans Mittelmeer, durch Mexiko nach Kalifornien und weiter nach Norden, aus Indien – ja, wohin eigentlich? Weißt du, wie viele auf dieser Flucht sterben werden? Wie viele Millionen Frauen, Kinder und Männer? Und alles, weil du gewinnst.
Hör auf mit dem Scheiß. Ändere den Ton. Gib dir Mühe. Mach den Menschen keine Angst, das kann jeder Idiot, und in diesem Fall begehst du Idiot ein Verbrechen. Mach’s dir schwer. Mach den Menschen Hoffnung. Hilf Milett, blas ins gleiche Horn. Scheiß auf deine Eitelkeit. Er hat dich beleidigt, na und? Hilf ihm, es geht nicht um euch zwei, es geht um alles. Verbreite: »Wir kommen und helfen euch« statt »lauft!«, Schalte mal dein Gehirn an, Diego Garcia, willst du 500 Millionen Tote auf dem Gewissen haben?
Ach, und jetzt, nachdem wir das geklärt hätten und es erst mal keine weiteren grenzdebilen SOS -Filmchen mehr geben muss, hat ja wohl auch dein Chefhacker mal eben zwei Stunden Zeit, ein paar Überwachungskameras für mich zu knacken, richtig?
Es war eigentlich ganz einfach. Aber im absolut wahrscheinlichen Worst Case stünde Beck nach dieser Rede mit mindestens einem blauen Auge draußen im Regen, mitten im Nichts und cirka drei Stunden Fußmarsch durch Zecken- und Wolfsreviere entfernt von der nächsten Ansiedlung oder befahrenen Landstraße. Ohne Oskar. Und ohne jede Aussicht, Gerrittsen oder Eisele auch nur einen Millimeter näher zu kommen. Dafür mit Aussichten auf Borreliose oder einen abgebissenen Arm.
Weshalb er seine Rede für sich behielt.
Er hatte inzwischen sogar aufgehört, den schwer arbeitenden Computergaias gelegentlich über die Schultern zu sehen. Erwollte weder wissen, wie sich der nächste Teil der SOS -Saga entwickelte, noch wollte er auf den kleinen obskuren Webcam- und Videofeed-Fenstern in den Bildschirmecken verfolgen, wie sich die Lage in den
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