Prophezeiung
dick und dumpf. Mavie schätzte, dass etwa 150 Menschen durcheinandermurmelten, und trotz der schalldämpfend konstruierten hohen Decke war die Lautstärke beträchtlich.
In der Mitte des Raumes befand sich ein zu den bodentiefen Fenstern an der gegenüberliegenden Seite hin offenes U aus schlichten Tischen aus Holz und Chrom, vor dem Fenster stand ein leicht erhöhtes Podest, auf das Milett jetzt schnurstracks zusteuerte, gefolgt von Aldo, Hände schüttelnd, lächelnd, Menschen begrüßend.
Die Lautstärke ließ nach, der Geräuschteppich wurde dünner, und die Anwesenden nahmen ihre Plätze ein. Etwa fünfzig von ihnen auf den Plätzen, die die Seiten des U bildeten, der Rest vor den Seitenwänden, auf schlichten Sesseln. Die zweite Reihe. Die der Assistenten, Sekretärinnen und Helfer.
Mavie hielt sich im Hintergrund. Gemeinsam mit JB , Goran, Brigg, Södergren und Filmore suchte sie nach einem freien Platz auf der rechten Seite des Raumes und hatte sich gerade damit abgefunden, die Eröffnungsrede Miletts von ganz hinten rechts aus im Stehen verfolgen zu müssen, als der Nobelpreisträger sacht auf das Mikrofon klopfte, das vor seinem Platz in der Mitte des Podiums angebracht war, und die Versammelten auf Englisch begrüßte. Nur wenige der Auserwählten griffen zu den auf dem Tisch liegenden Headsets, um sich den Vortrag simultan übersetzen zu lassen. Dies war die europäische Krisengruppe, keine internationale Veranstaltung mit afrikanischen und asiatischen Teilnehmern. Die würde man zu gegebener Zeit zuschalten und sichauch optisch an den Tisch holen, mittels der zahlreichen Bildschirme, die an allen Wänden verteilt hingen – sobald man sich auf eine gemeinsame europäische Linie verständigt hatte.
Derzeit zeigten die Bildschirme allerdings noch weit trostlosere Bilder als die von Krisengruppensprechern aus aller Welt. Die Bilder glichen sich, und manche ließen sich nur mittels der eingeblendeten Ortsangaben unterscheiden. Brennende Hafenanlagen, dunkelhäutige Menschen, die sich mit Uniformierten Gefechte lieferten oder von ihnen aus nächster Nähe zusammengeknüppelt wurden. Schiffe, reich behängt mit Menschentrauben, umzingelt von Patrouillenbooten, Ameisenkarawanen, von Helikoptern aus gefilmt, auf ihrem Treck nach Norden oder zum nächstgelegenen Hafen, mochte dieser auch eine mehrwöchige Reise zu Fuß entfernt sein. Die Botschaft hatte die Welt erreicht, ohne Frage, und nur die wenigsten schienen mit Milett der Meinung zu sein, der Norden, der Westen werde schon alles richten.
Besonders spektakulär waren die Bilder aus Agadez im Norden des Niger, der alten Hauptstadt am südlichen Rand der Sahara. Die Stadt war in Aufruhr, weil das libysche Militär an der weit entfernten Grenze den Weg nach Norden abgesperrt hatte. Zu viele Flüchtlinge befanden sich bereits auf dem Weg, und so hatte man offenbar beschlossen, diesen Strom zum Versiegen zu bringen. Nicht, weil die staubige Piste durch die Wüste Tenere die überlebenden Flüchtlinge Richtung Mittelmeer führen würde, sondern weil dieser Weg unmittelbar an der wichtigsten Riesenbaustelle Libyens vorbeiführte, dem NASP , für das eine Grundfläche präpariert worden war, die der Londons entsprach. Man konnte sich ausrechnen, was Hunderttausende hungriger und halb verdursteter Beduinen mit der Anlage machen würden, verweigerte man ihnen auf der Durchreise das dringend benötigte Wasser. Verweigern musste man es ihnen, denn dieses Wasser benötigten noch viel dringender als irgendwer sonst die Erbauer des NASP , da sich die riesigen Zementbauten zwischen den Parabolrinnen nicht allein aus Sand und gutem Ingenieurswillen errichten ließen.
Die Sperrung der Grenze sprach sich allerdings nur sehr langsam nach Agadez durch, und so strandeten die meisten der Flüchtlinge im Sahara-Nirgendwo, steuerten die längst überfüllten wenigen Oasen an und stritten sich dort bis aufs Blut um das wenige verbliebene Wasser. Die klügeren unter den Flüchtlingen kehrten um, in Richtung Agadez, aber der Menschenstrom aus den Wüstengebieten zu diesem Transitpunkt war unterdessen nicht abgerissen, sodass inzwischen statt der sonst 80 000 Einwohner fast eine Million Menschen in und um Agadez um Wasser und Lebensmittel konkurrierten.
Die wenigen Bilder, die die Menschen im Norden erreichten, waren grauenhaft. Allerdings auch meist von miserabler Qualität, da die einander massakrierenden Beduinen nicht über HD -Kameras und Netzzugänge verfügten, um den
Weitere Kostenlose Bücher