Prophezeiung
Böschung zur Linken bewegt, schon gar nicht, wenn einem der Fluchtweg nach rechts durch einen tiefen Graben versperrt ist.
Er begriff es erst, als der Angriff erfolgte. Er nahm die rasche Bewegung zu seiner Linken wahr, sah Grau, das sich pfeilschnell bewegte, hörte das Knurren, sah die Bernsteinaugen, viel zu nah, und konnte gerade noch den Arm hochreißen, vor seinen Hals, auf den die Zähne des Wolfs zuflogen. Das Knurren endete in seinem eigenen Schrei, im Schmerz, mit dem die Reißzähne desWolfes in seinen Unterarm schlugen, im Reißen und Knirschen, mit dem das Tier seinen Kopf ruckartig hin und her schüttelte, mit unfassbarer Kraft ihn von den Beinen holte, für einen Sekundenbruchteil locker ließ und erneut wuchtig zubiss, wieder in seinen Arm. Entsetzlich waren die Schmerzen, eine alles vernichtende Explosion, der sein Körper lediglich seine eigene Adrenalinexplosion entgegenzusetzen hatte, aber keine wirkliche Gegenwehr.
Beck hörte Oskar aufschreien, gellend, und hörte das Knurren der anderen Tiere. Er sah einen zweiten Wolf, der auf ihn zurannte, wie schläfrig tänzelnd, von oben, das Maul geöffnet, die Zähne gefletscht, die Kehle seines Opfers fest im Blick, und versuchte den zweiten Arm nach oben zu bringen, den Rechten, um sich vor dem zweiten Angreifer zu schützen. Im sicheren Wissen, dass nichts und niemand ihn vor den beiden Wölfen würde retten können. Ihn nicht, Oskar nicht, das Video nicht, die Welt nicht. Es war vorbei. Und es endete auf grässliche Weise, nicht nur grässlich schmerzhaft, sondern auch grässlich dumm und beleidigend. Ein Rudel Wölfe brachte Millionen Menschen um.
Beck war überrascht, als der Kopf des zweiten Wolfs mitten im Sprung zu einer nassen Wolke aus grauem Fell und Blut über seinem Gesicht explodierte.
Er war überrascht, als das Geräusch folgte, mit kurzer Verzögerung. Das Geräusch eines Schusses.
Der andere Wolf, zwei, drei Meter von ihm entfernt auf dem Hang, zuckte zusammen wie von einem Stromschlag getroffen, ging in die Knie, kam winselnd wieder auf die Vorderbeine und versuchte sich die Böschung hinaufzuschleppen, wo ein dritter Schuss ihn in den Rücken traf. Ungläubig sah Beck seinen ursprünglichen Angreifer loslassen, konnte seinen Arm wieder bewegen, leicht, frei und zu seiner Überraschung völlig schmerzlos, während er den nächsten Schuss in nächster Nähe explodieren hörte, direkt neben seinem Ohr abgefeuert.
Oskar feuerte die Schrotflinte mit der Rechten ab, auf dem Rücken liegend, ohne richtig zu zielen. Aber das musste er aus dieser kurzen Entfernung auch nicht. Zwei der Wölfe zuckten im Hagel der Schrotkugeln zusammen, einer blieb liegen, der andere schleppte sich hinter dem Rest des Rudels her den Hang hinauf,und Oskar feuerte eine weitere Schrotpatrone bergaufwärts, mit einem gellend geschrienen Fluch.
Beck legte den Kopf in den Nacken, drehte ihn leicht und sah, mit der Wange im schmutzigen Gras liegend, woher die ersten Schüsse gekommen waren. Der SUV , eben noch mitten in einer schlammigen Fahrspur am entfernten Ende des Feldes geparkt, setzte sich in Bewegung und kam rasch auf sie zu.
Es war ein unwirklicher Anblick, nicht nur, weil Becks Perspektive gründlich verdreht war. Der Schütze auf der Ladefläche des Pick-up trug eine schwarze Windjacke und eine Baseballkappe, unter der lange blonde Haare im Regenwind flatterten. Das Gewehr hielt er in der Rechten, mit der linken Ellenbogenbeuge hatte er sich hinter dem Fahrerhaus festgehakt, sodass ihm die linke Hand weiter stabilisierend zur Verfügung stand, falls er noch einmal feuern musste.
Aber das musste er nicht.
Und während der Pick-up näher kam und nur wenige Meter entfernt von den beiden Verletzten stehen blieb, begriff Beck, dass er sich korrigieren musste. Die langen Korkenzieherlocken gehörten nicht zu einem Schützen, sondern zu einer Schützin. Und sie, ein höchstens zwanzigjähriges Mädchen, sprang jetzt von der Ladefläche, überquerte mit einem energischen Satz den Wassergraben und landete direkt neben seinem Kopf. Sodass er den endlich wieder normal halten konnte, nach vorn, wenn auch mit dem rechten Ohr im Gras.
Sie hatte sehr hübsche Augen. Blau und groß. Und sehr besorgt.
Beck sah, dass der Fahrer des Wagens, ein großer, stämmiger Mann mit grauen Haaren, sich neben Oskar kniete, dessen Wunden kurz begutachtete und den Verletzten dann mit kräftigen Armen hochwuchtete. Das Mädchen mit den blauen Augen griff gleichzeitig nach
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