Prophezeiung
von Mavies Kehlkopf.
Milett blieb zwischen Sofa und Bücherwand stehen, stutzte kurz und trat dann zwei Schritte nach links. Er beugte sich vor,die Hände auf die Knie gestützt, betrachtete einen der Buchrücken und richtete sich wieder auf. Mit einem Lächeln ging er zurück zu seinem Platz, setzte sich wieder hin und sagte: »Keine Sorge. Sie haben Spengler in den Rücken geschossen. Hätten Sie Friedell getroffen, wäre ich ernstlich indigniert gewesen, aber Spengler hat es nicht anders verdient. Wo waren wir stehen geblieben?«
Mavie schluckte und sah ihn an. Der Revolver in ihrer Hand fühlte sich plötzlich an wie ein schmutziges Taschentuch, nicht mehr beeindruckend, sondern bloß noch peinlich.
»Woher nehmen Sie das?«, sagte er, und zum ersten Mal klang er freundlich und sah auch so aus. »Sie sind doch Akademikerin! Und zudem noch so jung. Haben Sie etwa Kinder? Ja, Sie müssen Kinder haben.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht? Verblüffend. Woher dann die Opferbereitschaft? Woher das Interesse für andere Menschen – woher das Interesse für die Welt in fünfzig Jahren? Menschen wie Sie übernehmen keine Verantwortung über das eigene kurze Leben hinaus, geschweige denn sind sie bereit, ihr Leben oder ihre Freiheit für ein Ziel zu opfern, das jenseits ihres Lebenshorizontes liegt. Was stimmt nicht mit Ihnen?«
Sie schluckte noch einmal. Das Zittern verebbte. »Ein genetischer Defekt?«, sagte sie.
Milett lachte. Dann beugte er sich vor, schenkte Whisky in alle drei Gläser nach und nickte beiläufig in Richtung von Mavies Knien. »Bitte. Das Sofa lässt sich flicken, aber wir wollen doch nicht, dass Sie versehentlich noch Ihren Begleiter oder mich durchlöchern. Sie wollen nicht ins Gefängnis, und ich will nicht sterben, weder für eine gute Sache noch für diesen Nonsens.«
Mavie ließ die Waffe in ihre Handtasche gleiten und griff nach ihrem Glas. Sie hielt es mit beiden Händen fest.
»Jedenfalls«, sagte Milett, »dachte ich bis eben, es wäre Unsinn. Aber es ist Ihnen gelungen, mich zu verunsichern. Als Theo mir heute Nachmittag diesen Nonsens zeigte, war ich bestenfalls amüsiert, und auch das, was Ihr Vater mir erzählte, klang nicht restlos überzeugend …«
»Heute Nachmittag? Welchen Nonsens?«, fragte Mavie.
Theo betrat den Raum, ohne anzuklopfen. Er trat neben Miletts Sofa, stellte seinem Herrn einen aufgeklappten Laptop hin und zog sich mit einem höflichen Nicken zurück. Während die Tür leise hinter ihm ins Schloss fiel, klickte Milett dreimal auf das Trackpad, dann stellte er den Laptop auf den Couchtisch, das Display in Mavies und Philipps Richtung gedreht.
Der Anblick war unspektakulär, aber Mavie stockte trotzdem der Atem. Denn was sie schwarz auf weiß sah, war Teil der nackten Datensammlung, die sie auf ihrem Mem-Stick aus dem IICO geschmuggelt hatte.
»Woher?«, fragte sie.
»Aus dem Netz«, sagte Milett. »Ich habe das nicht ernst genommen, es war nur einer von täglich dreißig, vierzig Links, die Theo und Martha für mich vorsortieren. Verschwörungstheorien, Gerüchte, Whistleblower, Wikileaks, Dokumente, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Das meiste ist Unfug, und dies erschien mir besonders weit hergeholt – zumal es besonders lieblos gemacht ist, denn es gibt nur eine profane Startseite, auf der ein gewisser Commander Sotavento von Daten orakelt, die das Ende der Welt vorhersagen …«
»Daniel«, sagte Mavie leise, verstand und war im gleichen Moment stinksauer, dass er sich nicht an ihre Anweisung gehalten hatte. Commander Sotavento, was für ein bescheuerter Name. Selbst für einen Windsurfer.
»Bitte?«, fragte Milett.
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Ein Freund von mir. Ich hatte ihm die Daten dagelassen, für den Fall, dass mir etwas zustößt. Er sollte sie nicht einfach ins Netz stellen, Herrgott.«
»Nun ja«, sagte Milett. »Es sind ja auch nicht direkt aussagekräftige Daten. Jeder kann sich all das ausdenken und es untereinander schreiben, deshalb hatte ich den Link als irrelevant verworfen. Aber, wie gesagt, nachdem Ihr Vater so eindringlich auf das Problem hinwies, offenbar ohne diese Website zu kennen, und nachdem dann auch noch Sie hinzukamen … Ich hätte Sie dennoch bloß für einen Teil dieses kleinen Clubs von Irrsinnigen gehalten, wenn Sie nicht bereit gewesen wären, für Ihre fixe Idee den Rest Ihres Lebens im Gefängnis zu verbringen. Also: Woher kommen die Daten?«
» Prometheus «, sagte Mavie und nahm
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