Proust 1913
Bitte, meinen Brief auch Ihrer Schwester zu übermitteln. Ich bin tatsächlich unfähig zu schreiben, und ich habe 750 Seiten Fahnen zu korrigieren oder eher von vorn zu beginnen! Und mein Brief ist nicht nur Dank für Ihre Briefe, er hat noch andere Gründe: Ich möchte, dass Sie Ihrem Vater einige Fragen vorlegen, die ich ihm schon zehn Mal gestellt habe, aber ich schreibe nicht auf, was er mir sagt, und alles beginnt wieder von vorne.« ( XII , 201 ) Die Fragen zielen alle auf das im Entstehen begriffene Werk, wie schließlich auch die Geschenke an die Fräulein d’Alton in dem Werk als Geschenke Marcels an Albertine ihr eigentliches Ziel erreichen.
Proust und die Russen
Trotz zeitraubender Korrektur und Überarbeitung der Druckfahnen besucht Proust im Mai drei russische Abende im Théâtre des Champs-Élysées (Farbtafel VII ). Am 15 . Mai sieht er Strawinskys
Oiseau de feu,
Debussys
Jeux
und Rimski-Korsakows
Shéhérazade;
am 29 . Mai dann die denkwürdige Uraufführung von Strawinskys
Sacre du printemps.
Strawinsky
Die jungen Mädchen, denen Proust dort begegnet, kommen aus einer anderen Welt als jene, die er in seinem Roman in Szene setzt.
Junge Mädchen in Le Sacre du printemps
Zwischen den beiden Ballett-Abenden stand am 22 . Mai
Boris Godunow
auf dem Programm. Es bestehen zwei Momentaufnahmen von Proust als Besucher von
Boris Godunow.
Jacques-Émile Blanche, der seine Erinnerung auf Juni anstatt auf Mai datiert, erzählt in seinen Memoiren, er und Proust hätten sich versöhnt »an einem Abend 1913 im ›théâtre Astruc‹ als sich mitten im Juni ein Pelzmantel auf dem Sitz neben mir niederließ«. ( XII , 181 ) Und Lucien Aressy schreibt in
À la recherche de Marcel Proust:
»Ich erinnere mich, mit ihm einen Abend im Théâtre des Champs-Élysées verbracht zu haben. Man gab
Boris Godunow.
Es war im Frühjahr. Er behielt seinen Pelzmantel während der ganzen Aufführung an und trug einen Achttagebart.«
Prousts Pelzmantel ist nicht etwa eine Hommage an die Russen, sondern Schutz vor Erkältungen. Wie andere Proust’sche Reliquien – ein angesengtes Fetzchen Papier, eine Haarlocke – wird der Pelzmantel in einer Privatsammlung aufbewahrt und nur bei besonderem Anlass ausgestellt. Einen solchen schildertLorenza Foschini in ihrem schönen Buch
Prousts Mantel.
Einige Spuren der im Mai besuchten Aufführungen finden sich im Werk, doch in den Briefen beschäftigt sich Proust weder mit Nijinsky noch mit Schaljapin oder Strawinsky, dafür aber mit einer russischen Dame, die er ein Jahr zuvor in Cabourg kennengelernt hat: Mme Scheikévitch. Er trifft sie am 15 . Mai bei den Russen, wird von ihr zu einem Diner eingeladen. Dort soll er Geistreiches über Fliederverse von Montesquiou zum Besten gegeben haben, worauf ihm die Dame einen Fliederstrauß zukommen lässt. Proust bedankt sich mit einem Brief und, natürlich, mit einem Geschenk. Er greift zur Schere und zum (so nehmen wir an) Reserveexemplar der Druckfahnen, aus dem er fünf Passagen herausschneidet, in denen von Flieder die Rede ist. Dann nimmt er Leim, klebt die Passagen zusammen und legt sie dem Dankesbrief bei. Auch in diesem gibt Proust Geistreiches zum Besten: Anspielungen einmal nicht auf sein Asthma, dem duftender Flieder wohl nicht gerade bekömmlich ist, sondern auf einen Roman von Anatole France, mehrdeutige Bescheidenheitsfloskeln zu den fraglichen Fliedertexten, eine für unseren Geschmack nicht sehr geschmackvolle Anspielung auf den in der Gesellschaft bekannten Versuch Mme Scheikévitchs, sich das Leben zu nehmen: »Im Gedanken daran, wie sehr das Leben Sie mit Blut befleckt hat, sagte ich Ihnen neulich, nachdem ich Sie von ferne erblickt hatte und jenes große Buket roter Rosen Sie ins Herz stach, dass Sie mich an eine Dolchstichtaube gemahnten.« ( XII , 174 ) »Die Dolchstichtauben«, diesen Titel erwägt Proust in einem Brief an René Blum von Anfang November für den zweiten Band seines Romans: »Les Colombes poignardées«. Vorerst aber geht es um die Titel des ersten Bandes.
Proust titelt
Bei der Herstellung der Druckfahnen zeigt sich immer deutlicher, dass das vorliegende Typoskript weit mehr als einen Band füllt. Für das ganze Werk sind drei Bände vorzusehen, was bedeutet, dass für den ersten Band ein neuer Schluss und für die drei Bände neue Titel gefunden werden müssen. Als er Grasset Mitte Mai die ersten fünfundvierzig Druckfahnen zurückschickt, erwähnt er in seinem Begleitbrief die neuen Titel:
Weitere Kostenlose Bücher