Psalms of Isaak 01. Sündenfall
Jakob gekannt zu haben. Ich bin in dem Jahr geboren, in dem er und Königin Marielle getötet wurden.«
Im Haus ihres Vaters hatte Jin Li Tam natürlich schon Gerüchte über Teile dieser Geschichte gehört: Ein unerwarteter und gewaltsamer Putsch in den Neun Wäldern, der von einem charismatischen Mystiker namens Fontayn angeführt worden war. Fontayns Vetter war der Verwalter von Schimmerschein gewesen, der Ersten Waldresidenz. Erst hatten sie die Zigeunerspäher vergiftet, die abgestellt waren, um die Residenz und die Familie zu bewachen. Dann hatten sie Königin Marielle im Schlaf abgeschlachtet. Ihnen war nicht klar gewesen, dass König Jakob und sein Erbe durch einen verborgenen Gang hinausgeschlüpft waren, um eine kleine nächtliche Jagd zu veranstalten. König Jakob war beim Klang der Alarmglocken zurückgekehrt und vor den Augen seines Sohnes von Fontayn und seiner Rotte von Aufständischen erschlagen worden.
Seit ihrem ersten Besuch bei der Flussfrau hatte Jin Li Tam die meiste Zeit damit verbracht, zu beobachten und zu lauschen. Und zum ersten Mal in ihrem Leben stellte sie fest, dass sie an der Sache ihres Vaters zweifelte, doch konnte sie beim besten Willen nicht verstehen, weshalb. Zu tun, was immer getan werden musste, um die Welt zu bewegen – das war es, wofür ihr Vater stand. Und auch sie war bereit dazu. Oder hatte zumindest geglaubt, dass sie es war. Deshalb befriedigte sie die Männer, zu denen ihr Vater sie schickte, und holte sich hin und wieder auch Befriedigung von ihnen. Ihre Beobachtungen und Spitzeleien unternahm sie vor allem anderen für ihn, und gab das, was sie sah oder hörte, an ihren Vater weiter, damit er sein Werk verrichten konnte.
Doch nun stellte sie fest, dass sie es infrage stellte. Weshalb nur? Ihr Vater verfolgte eine perfekte Strategie und hatte dabei eine Stufe erreicht, die selbst die Franziner übertraf. Um den Preis eines vor Jahren vergifteten Bruders schritt heute ein hervorragender Anführer durch die Benannten Lande. Ein Anführer, der, wenn man dem jüngsten seiner Zigeunerspäher glaubte, immer den richtigen Pfad kannte und diesen Pfad auch immer einschlug, koste es, was es wolle.
Und sie erkannte, dass es schon immer ein Teil dieser Strategie gewesen war, diesem Anführer eine Tochter des Hauses Li Tam zur Seite zu stellen, so dass das gute Werk ihres Vaters in die Tat umgesetzt werden konnte.
Aber weshalb brauchte er diesen Anführer? Was hatte er mit Rudolfo vor?
Und was hatte er mit ihr vor? Sie dachte an das Pulver, das die Flussfrau für sie zubereitete. Sie dachte an die Arbeit, die vor ihr lag, sobald sie sich in aller Stille daranmachte, ihm einen Erben zu schenken. Mehr als einen Erben, wurde ihr klar. Ein Kind, das aufwachsen würde, um das Licht an dem Ort zu bewachen, an den es verpflanzt worden war.
Ihr Kopf schmerzte, als sie für den Bruchteil eines Augenblicks an das vollkommen veränderte Leben dachte, das er führen würde. Rudolfo war über seine Ebenen geritten, hatte mit seinen Zigeunerspähern gelacht und ihnen Rennen geliefert, hatte immer unterwegs zwischen seinen Waldresidenzen gelebt. Das würde sich mit der Bibliothek ändern. Die Siebte Residenz würde zum neuen Mittelpunkt der Welt werden.
Ihr fiel auf, dass sie stehen geblieben war, und sie schüttelte den Kopf. Sie blickte Edrys an, der inzwischen schwieg. »Es tut mir leid, Edrys. Meine Gedanken sind abgeschweift.«
Er nickte. »Ihr habt nach König Jakob gefragt. Mein Vater hat sowohl ihm als auch Rudolfo gedient. Er sagte, sie wären sich sehr ähnlich. Auch König Jakob hat den Turban sehr früh an sich genommen, und das hat ihn stark gemacht. Er hat ihn zu einem starken Jungen erzogen, und der Zufall hat König Rudolfo dasselbe Schicksal beschert. Mein Vater hat immer gesagt, dass er ganz wie König Jakob ist, nur noch skrupelloser, wegen der Umstände, unter denen er zu seinem Recht gekommen ist.«
Sie hielt inne, und die Worte setzten sich langsam. Noch skrupelloser wegen der Umstände, unter denen er zu seinem Recht gekommen ist. König Jakob hat den Turban früh an sich genommen, und das hat ihn stark gemacht.
Unversehens füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie blinzelte in die Kälte hinaus, während sich ihr Mund vor Überraschung öffnete, nicht wegen der Erkenntnis, sondern wegen ihrer Reaktion darauf.
Jetzt erkannte sie die Strategie ihres Vaters, und sie sah, dass er Rudolfos Leben an Schlüsselpunkten gekonnt unterbrochen hatte, um den Fluss in
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