Psalms of Isaak 01. Sündenfall
Dringlichkeit. »Ihr habt den Befehl, mit höchster Laufgeschwindigkeit zu den Überresten der Großen Bibliothek zurückzukehren. Weitere Befehle habt Ihr zu missachten, bis diese Befehle vollständig ausgeführt sind. Habt ihr verstanden?«
Dreizehn Stimmen hallten im Zelt wider, dreizehn Gestalten erwachten klickend und klackend zum Leben, während sie in die chaotische Nacht hinausstürmten.
In diesem Augenblick hörte Rudolfo Gregoric aufschreien.
Vlad Li Tam
Vlad Li Tam schlief in dieser Nacht nicht. Das tat er selten, wenn sich die entscheidenden Momente seiner Strategie abspielten. Er saß ohne die Pfeife mit den Kallabeeren in seinem Zelt und kauerte sich in seine Decke, während er darauf wartete, dass sein Adjutant Neuigkeiten berichtete.
Er hatte seinem fünfzigsten Sohn die Aufgabe übertragen, für die er ihn ausgebildet hatte. Natürlich war sein fünfzigster Sohn, als Vlad anfangen hatte, diese besondere Strategie zu verfolgen, noch nicht geboren gewesen. Er hatte keine Ahnung gehabt, welchen Pfeil er auf dieses spezielle Ziel abschießen würde. Für gewöhnlich benutzte ein Tam andere und machte sie zu seinen Pfeilen, manipulierte ihr Umfeld, bis die richtige Zeit gekommen war, sie als Waffe zu benutzen. Aber in diesem Fall konnte er es sich nicht leisten, nach so vielen Mühen im Lauf so vieler Jahre eine unbekannte Größe in Rudolfos Nähe zu lassen. Daher hatte er die Aufgabe der einzigen Reserve übertragen, auf die ein Tam vertrauensvoll zurückgreifen konnte: die Familie.
Er hatte seinen Sohn fortgeschickt, um sich die geknotete Kordel eines Leutnants in Sethberts Armee zu verdienen, damit er, Vlad Li Tam, zu gegebener Zeit den Hammer in seiner Hand erheben konnte.
So kam es, dass er einen weiteren Nagel in Rudolfos Seele trieb – den letzten, den er hineinhämmern würde, wie er schätzte. Das Übrige würde sich in Form von Nachwirkungen ergeben, und was er in seiner zweiundvierzigsten Tochter angelegt hatte, sollte ausreichen, um die Dinge voranzutreiben.
Ihr ungeborenes Kind würde den Mittelpunkt der Welt erben und ihn besser beschützen, als die Androfranziner es vermochten.
Die Zeltklappe raschelte, und sein Adjutant schob den Kopf in das warme, beengte Innere. »Die letzten Worte Eures fünfzigsten Sohns sind eingetroffen, Fürst Tam.«
Letzte Worte. Vlad Li Tam streckte sich und nahm das aufgerollte Pergament entgegen. Er entrollte es, las die Worte langsam und steckte die Nachricht dann in sein Hemd, wo sie sich an seine haarlose Brust schmiegte. »Es ist ein Gedicht«, sagte er mit belegter Stimme, »über die große Liebe eines Sohnes zu seinem Vater.«
Der Diener neigte den Kopf. »Mein Beileid zu Eurem Verlust, Fürst Tam.«
Fürst Tam nickte. »Dank dir, Aetris.«
Die Zeltklappe schloss sich raschelnd, und Vlad streckte sich auf dem Rücken aus, starrte an die Decke seines Zeltes, die sich unter dem Schnee bog. Es würde mindestens noch eine Stunde dauern, bis er eine Bestätigung durch eine weitere Quelle erhielt. Aber sein fünfzigster Sohn hätte den Vogel, der seine letzten Worte trug, nicht fliegen lassen, wenn er sich über den Ausgang seiner Pläne nicht sicher gewesen wäre.
Er griff nach dem Pergament und drückte die Nachricht an seine Brust. Sein Sohn war inzwischen gewiss gestorben, und er spürte, wie die Trauer an ihm leckte. Wenn andere zusehen konnten, stellte Vlad Li Tam ein Gesicht aus Stein zur Schau, undurchdringlich und unnachgiebig. Aber hier, allein in seinem Zelt und ohne den Kallabeerenrauch, der seinem Schmerz die Schärfe nahm, weinte Vlad Li Tam leise um den Sohn, den er getötet hatte.
Er wusste, dass das Resultat das Opfer aufwiegen würde, und er wusste, dass dem auch sein Sohn zugestimmt hätte, wenn er geahnt hätte, was er mit seinem Tod gerettet hatte. Aber dennoch spürte Vlad Li Tam den Schmerz, den dieser Verlust ihm zufügte, und er verabscheute die Machtlosigkeit, die ihn dabei heimsuchte. Sie erinnerte ihn an einen anderen Verlust, der auf diesem Pfad noch vor ihm lag.
Als der nächste Vogel eintraf, brachte er die Neuigkeiten, die Vlad Li Tam erwartet hatte. Für diesen Vogel hatte er sich nach draußen begeben, und sein Atem dampfte in der kalten Nachtluft, während er durch den Schnee stapfte. Er drückte die Nachricht seinem Diener in die Hand. »Antworte Petronus mit Beileidsbekundungen für Rudolfos Verlust«, sagte er. »Und schicke den Vogel an meine zweiundvierzigste Tochter los.«
Der Diener nickte. »Ja,
Weitere Kostenlose Bücher