Psalms of Isaak 01. Sündenfall
sehen.« Sein Vater nahm die Münze und schaute sie an. »Der dritte Sohn, Vas Y’Zir«, sagte er nach einem Augenblick. »Er war der Hexenkönig von Aelys.« Der Park der Waisen um sie herum war still, denn die anderen Kinder waren in ihren Klassenzimmern. Bruder Hebda holte ihn immer aus dem Unterricht, wenn er ihn besuchte, und die Lehrer störten sich nie daran. Er beugte sich über die Bank, legte die Münze auf seine Handfläche und deutete darauf. »Wenn du genau hinschaust, kannst du die Ätzung um sein linkes Auge sehen. Und wenn du noch genauer hinschaust, kannst du sehen, dass sein linkes Auge eigentlich eine Schnitzerei aus Nachtstein ist. Es hieß, dass er damit die Unsichtbare Welt sehen konnte, um dort Pakte für seine Blutmagie zu schmieden.« Bruder Hebda gab die Münze zurück.
Neb nahm sie und hielt sie ins Licht, bis er das dunkle Auge sehen konnte. »Ich danke Euch, Bruder Hebda.«
Sein Vater nickte. »Gern geschehen.« Seine Stimme wurde leiser, und er blickte sich um. »Willst du wissen, was wir noch gefunden haben?«
Neb nickte.
»Der Erzgelehrte hat mich nicht allzu nahe herangelassen, aber weit hinten, hinter der Heiligenfigur des Schreins verborgen, haben sie eine Rufello-Kassette gefunden, die noch verschlossen war.«
Neb spürte, wie seine Augen groß wurden. »Wirklich?«
Bruder Hebda nickte. »So ist es. Und sie war vollkommen unbeschädigt.«
Neb hatte ein paar Blicke auf die Mechoservitoren erhascht, die Bruder Charles, der Erzmaschinist, anhand Rufellos Buch der Baupläne rekonstruiert hatte. Sie wurden in Verschlägen in den unteren Teilen der Bibliothek aufbewahrt, aber als er zum Recherchieren mit einem Akolythen unterwegs gewesen war, hatte er kurz einen gesehen. Beim Gehen hatte er gescheppert, bei jeder Bewegung war zischender Dampf aus seinem Entlüftungsrost entwichen. Er maß drei Spannen an Höhe und war unförmiger als die Metallmänner aus den Tagen vor P’Andro Whym und Xhum Y’Zir. Trotzdem kam er so nahe an die Zeichnungen heran, dass Neb die Ähnlichkeiten erkennen konnte. Neb hatte beobachtet, wie er ein Buch aussuchte und damit in einem der vielen verborgenen Aufzüge der Bibliothek verschwand.
»Meinst du, dass darin ein paar von seinen Zeichnungen sind?« Aiedos Rufello war eine von Nebs Lieblingsgestalten aus der Geschichte der Alten Welt. Seine Werke waren bereits alt gewesen, als P’Andro Whym noch ein Junge war, und er hatte sein Leben dafür hingegeben, die wissenschaftlichen Rätsel der Ersten Welt zu verstehen.
»Unwahrscheinlich«, sagte sein Vater. »Du weißt, warum. Zeig mir, wie gut sie dich in dieser Schule da ausgebildet haben.«
Neb musterte die Münze, während er in seinem Gedächtnis kramte. Er fand, wonach er gesucht hatte, und blickte grinsend auf. »Weil die Y’Ziriten kein Interesse daran hatten, Rufellos wissenschaftliche Arbeit zu erhalten. Xhum Y’Zir sah in der Wissenschaftsbewegung eine Bedrohung für seine Magie, und später ermordeten ein paar ihrer Anhänger sogar seine sieben Söhne.«
»Genau«, sagte sein Vater, und ein stolzes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Aber ist es nicht interessant, dass nach all den Jahren derjenige, der den Schrein errichtet hat, Rufellos wissenschaftlich begründete Arbeit dazu benutzt hat, etwas zu schützen, das dort versteckt wurde?«
»Weshalb sollte jemand so etwas tun?« Es musste ihm wichtig gewesen sein, dachte Neb.
Bruder Hebda zuckte die Achseln. »Es könnte sich um ein abweichendes Evangelium handeln oder vielleicht um einen Teil eines unbedeutenden Kodex mit Bannsprüchen. Trotzdem hat man mich mit einer vollen Mannschaft der Elitetruppe der Grauen Garde hierher zurückeilen lassen. Wir ritten Tag und Nacht; sogar unsere Pferde haben wir magifiziert, damit sie keine Geräusche machen. Einer der Mechoservitoren wird die Ziffernfolge des Schlosses entschlüsseln, aber ich bezweifle, dass jemals verkündet wird, was sich dahinter verbirgt.«
Neb runzelte die Stirn. »Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.« Dies war eine der Grabungen, für die er sich beworben hatte, um sie als Lehrling zu begleiten.
Sein Vater nickte. »Eines Tages werden sie dir deine Genehmigung geben. ›Geduld ist sowohl das Herz der Kunst als auch der Wissenschaft‹«, zitierte er eine Passage aus der whymerischen Bibel.
»Das hoffe ich.«
Bruder Hebda legte einen Arm um Nebs Schultern. Er berührte den Jungen fast nie, und Neb glaubte, dass das Elterndasein womöglich schwieriger
Weitere Kostenlose Bücher