Psalms of Isaak 01. Sündenfall
Zielgerichtetheit.
Sie zwang sich zu einem leichten Schlaf, ein Ohr den Glöckchen am Zelteingang zugewandt.
Jin Li Tam erwachte, als eine Hand über ihrem Mund lag. Sie riss den kleinen Dolch hoch, und als sie damit zustechen wollte, kam eine zweite Hand und packte ihr Handgelenk. Jin wehrte sich gegen den Eindringling. »Ruhig, edle Dame Tam«, flüsterte eine Stimme. »Ich bringe eine Nachricht von General Rudolfo.« Sie stellte ihren Widerstand ein. »Möchtet Ihr sie hören?«
Sie nickte, und er ließ sie los. »Ich will sie hören.«
Der Zigeunerspäher räusperte sich, dann trug er die Nachricht vor. »General Rudolfo wünscht Euch einen guten Abend und versichert Euch, dass er seinen Vorschlag ehrlich meint. Er bittet Euch, Euch die Wahl zwischen ihm und Sethbert gut zu überlegen und bei alledem auch an Euren Vater zu denken. Die Streunende Armee mag klein sein, aber wie Ihr bestens wisst, wird das Haus Li Tam seine Eiserne Armada entsenden, um der geheimen Bundschaft mit Windwir Genüge zu tun. Und wenn erst einmal die Drei Flüsse und ihr Delta blockiert sind, wird es keine Rolle mehr spielen, wie klein General Rudolfos Armee ist. Sethberts Kräfte werden aufgespalten sein und den Kampf in zwei Arenen austragen.«
Jin Li Tam lächelte. Ihr Vater hatte mit seiner Einschätzung Rudolfos recht gehabt. Er war ein hervorragender Anführer.
Der Zigeunerspäher fuhr fort: »In der Zwischenzeit sollt Ihr, wenn Ihr die richtige Wahl getroffen habt, sein Gast sein, bis diese Unstimmigkeiten vorüber sind und Ihr wieder zu Eurem Vater stoßen könnt.«
Sie nickte. Natürlich existierte eine geheime Bundschaft ihres Vaters mit den Androfranzinern, aber Rudolfos Bote war der Beweis dafür, dass auch andere sich mit ihm verbünden wollten. Das Haus Li Tam war ein Unternehmen von Schiffsbauern, das vor über fünfhundert Jahren eine erfolgreiche Kette von Banken gegründet hatte, die – für ihre politische Neutralität bekannt – selbst die gewaltigen Konten der Androfranziner verwaltete. Weil das Haus Li Tam keine offizielle, öffentlich bekannte Bundschaft mit irgendeiner der Mächte unterhielt, hatte es die Freiheit, über jeden Informationen zu sammeln und sie an den Höchstbietenden weiterzugeben.
»Was springt für Rudolfo selbst dabei heraus?«
Sie konnte hören, wie der Späher lächelte, als er antwortete. »Er hat gesagt, wenn Ihr diese Frage stellt, soll ich Euch antworten, dass ein Tanz mit dem Sonnenaufgang ihn sein Leben lang wärmen wird.«
Sie lachte leise. »Aha. Ein König, der wünscht, er wäre ein Dichter.«
»Wir werden im Westen warten, solltet Ihr General Rudolfos Angebot annehmen.«
Und dann war sie wieder allein in der Dunkelheit. Abermals klingelte das Glöckchen nicht.
Jin Li Tam brauchte nicht lange, um ihre Entscheidung zu fällen. Sie hatte sich bereits vor der Ankunft des Spähers entschieden. Aber sie hatte sich schon vorher gefragt, ob es zu einer dritten Geste von Rudolfo kommen würde, und der Späher in ihrem Zelt hatte die Frage zur Genüge beantwortet. Üblicherweise ging es mit etwas weniger Geheimhaltung vonstatten, vielleicht sogar mit einem förmlichen Treffen. Aber jede von Rudolfos drei Gesten war derart subtil gewesen, dass auch noch andere Auslegungen denkbar waren. Die erste war sein Angebot gewesen, in der Anwesenheit von Sethbert zu tanzen. Die zweite war eine weitere Botschaft gewesen, die er auf ihr Handgelenk getippt hatte, seine letzten Worte: Und ich würde Euch niemals »Gefährtin« nennen.
Nun hatte sie ihre dritte Geste. Wenn es im Laufe einer Nacht nur eine oder zwei Gesten gewesen wären, hätte es nichts zu bedeuten gehabt. Aber auch die dritte Geste enthielt noch eine verborgene Botschaft, und nun wusste sie, dass es sich bei diesem Rudolfo um einen whymerischen Irrgarten voller versteckter Pfade hinter geheimen Türen handelte. Die letzte verborgene Botschaft war offensichtlich, jedoch in einen Mantel der Höflichkeit gegenüber ihrem Vater verpackt. Es war die dritte Geste binnen einer Nacht, ein deutlicher Hinweis, aber mit raffinierter Anmut vorgebracht: König Rudolfo von den Neun Häusern der Neun Wälder hatte kundgetan, dass er ein möglicher Verehrer war, was dem uralten Ritus der Bundschaft entsprach, in dem festgelegt war, wie ein Herrscher ein Bündnis zwischen zwei Häusern anstreben sollte, um einen gemeinsamen Feind zu schlagen.
Das bedeutete, dass sie sich, wenn sie es denn wollte, auf den Schutz der Bundschaft berufen
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