Psalms of Isaak 01. Sündenfall
Er hatte schon von der Spähermagie gelesen und wusste, welche Wirkung sie auf Unausgebildete und Unerfahrene haben konnte. Aber dann verschloss sie den Beutel und ließ ihn wieder in ihr Hemd fallen.
»Folge mir«, sagte sie. Sie löste das Ende einer seidenen Schnur von ihrem Handgelenk und band es an seiner Hand fest.
Er ging mit ihr, die Schnur in der Hand, während sie aus dem Zelt hinaus in den noch dunklen Morgen schlüpfte. Neb folgte ihr durch die Schatten des nächtlichen Lagers, glitt an Zelten vorbei, in denen Soldaten schnarchten und murmelten. Er tat sein Bestes, um herauszufinden, wohin sie liefen, aber es schien, als würde sie jedes Mal die Richtung ändern, gerade wenn er sich wieder orientieren konnte.
Schließlich verließen sie das Lager und bewegten sich leise durch den Wald. Als sie zu laufen anfingen, drangen die Worte der Rothaarigen in sein Bewusstsein.
Sethbert hat Windwir zerstört. Sie ließen ihn nicht los, drängten ihn, stachelten ihn an, aber er wusste nicht, weshalb. Er hatte zuvor die Soldaten belauscht und war zu demselben Schluss gekommen wie sie – dass die Schuld viel wahrscheinlicher bei der Neugier der Androfranziner lag als beim Aufseher, Wahnsinn hin oder her. Doch diese Frau hielt nicht nur Sethbert für den Schuldigen, sie glaubte auch, dass es Krieg geben würde. Und sie hätte einfach gehen können.
Aber das hatte sie nicht getan – sie war zuerst zu ihm gekommen und hatte ein größeres Risiko als nötig auf sich genommen.
Das brachte ihr Nebs Vertrauen ein.
Sethbert hatte Windwir zerstört. Abermals drängte und trieb ihn dieses Wissen. Etwas, das hinter dieser Mauer aus Worten verborgen lag, zerbröckelte, und Licht schien hindurch.
Sethbert.
Als ihn die Erkenntnis traf, blieb Neb plötzlich stehen, und die Schnur spannte sich. Die rothaarige Frau blieb ebenfalls stehen, und im grauen Dämmerlicht konnte Neb ihre Umrisse blass schimmern sehen. Sie duckte sich.
»Weshalb hast du angehalten? Wir sind fast da.«
Neb wünschte, er könnte seinen Mund öffnen und ihr erklären, weshalb er sie nicht begleiten konnte. Er wünschte, er könnte ihr von dem elektrischen Schlag erzählen, der ihn durchzuckt hatte, als er die Wahrheit erkannt hatte.
Sethbert hatte Windwir vernichtet.
In Wahrheit hatte nicht Neb seinen Vater ermordet – Sethbert war es gewesen. Und das änderte alles.
Deswegen konnte er nun nicht mit ihr gehen.
Deswegen musste er zurückkehren und Sethbert töten.
Petronus
Als die Sonne hinter ihm an einem Himmel ohne Vögel aufging, erklomm Petronus den Grat und blickte auf die Verheerung von Windwir hinab.
Nichts hätte ihn auf diesen Anblick vorbereiten können. Hunderte Male hatte er diese Höhen erklommen, als er auf verschiedenen Einsätzen für den Orden aus der Stadt und wieder zurück geritten war. Gewiss, ihm war klar gewesen, dass sich ihm dieses Mal nicht derselbe, altvertraute Anblick bieten würde: die großen Schiffe an ihren Anlegestellen, die mit Fracht für das Entrolusische Delta tief im Wasser lagen; die breiten, hohen Steinmauern, die die verschiedenen Viertel umgaben, aus denen die größte Stadt der Welt bestand; die Türme der Kathedralen und der Großen Bibliothek, deren Fahnen im Morgenwind flatterten; die Häuser und Läden vor den Toren, die sich an die Stadtmauern schmiegten wie Kälber an ihre Mutter.
Petronus glitt aus dem Sattel und überließ das Pferd sich selbst. Er stand da, zitterte und begutachtete die Szenerie, die sich vor ihm ausbreitete. Er hatte es bereits geahnt. Petronus hatte nicht erwartet, eines dieser Dinge wiederzusehen, aber er war davon ausgegangen, dass er dort unten zumindest irgendetwas erblicken würde, das ihm vertraut war.
Es gab nichts.
Die verkohlten Ruinen lagen unter ihm verstreut, und es gab keine klare Abgrenzung, wo die Trümmer der Stadt endeten und die Trümmer des Umlandes ihren Anfang nahmen. Mit Einschlagkratern und Hügeln aus schwarzem Schutt gesprenkelt zog sich die Landschaft dahin bis in die Ferne, wo sie unversehens am Flussufer endete. Im Westen und Süden wurde sie von Hügeln begrenzt, und Petronus konnte den Rauch und die Flaggen des Zigeunerlagers sehen, das sich zwischen die vorgelagerten Höhen kauerte.
Es gab keinen Hinweis auf ein entrolusisches Lager, aber wenn man Sethbert kannte, war anzunehmen, dass es abgelegen und versteckt lag, in Reichweite, aber nicht leicht zu erreichen. Ein Mann unterschied sich selten stark von seinem Vater, und nach allem, was
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