Psalms of Isaak 01. Sündenfall
sagen, und Neb beobachtete sie. Schließlich sprach sie: »Ich komme gerade aus der Offiziersmesse. Es heißt, dass heute Morgen Rudolfos Kriegsrabe eingetroffen ist. Letzte Nacht hat es einen Überfall gegeben. Ein Androfranziner ist geradewegs aus seinem Zelt entführt worden, während er geschlafen hat. Die Dame des Aufsehers, Jin Li Tam, wurde ebenfalls entführt. Und ein Halbtrupp unserer Späher wurde westlich des Lagers abgeschlachtet. Es sind gefährliche Zeiten, Junge. Wenn ich du wäre, würde ich in der Nähe des Zeltes bleiben.«
Er nickte. Nachdem sie fort war, dachte Neb über den Androfranziner nach. Er hatte ihn ein paarmal zu Gesicht bekommen – er trug den Talar eines Lehrlings, von der eintönigen braunen Farbe, die die Kanzlei für mechanische Studien verwendete. Bei dem Gedanken an die toten Späher rebellierte sein Magen, aber zumindest war er zuversichtlich, dass die Frau entkommen war. Auf seiner Flucht hatte er sich nicht umgeschaut, aber er hatte auch keine Zweifel an ihrer Fähigkeit gehabt, auf sich selbst aufzupassen.
Sie war nicht nur eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte – groß, mit kupferfarbenem Haar, auf dem das Sonnenlicht glänzte, stechend blauen Augen und einer Haut wie Alabaster, die der Zweite Sommer mit leichten Sommersprossen überzogen hatte -, es schien auch keine gefährlichere Frau als sie zu geben.
Neb ging an den Tisch und nahm ein Frühstück aus Eiern und Reis zu sich, dem ein kräftiger Apfelwein und eine Scheibe Cheddar folgten. Während er aß, plante er den Anschlag auf den Mann, der seinen Vater ermordet hatte.
Noch nie zuvor hatte er darüber nachgedacht, jemanden zu töten. Nun, das stimmte nicht ganz. Vor zwei Jahren hatte er sich einmal darüber Gedanken gemacht. Damals war er dreizehn gewesen und die Graue Garde war zur Schule gekommen, um ihre jährliche Rekrutierungsrunde durchzuführen.
Er war ein beeindruckender Mann gewesen, dieser Hauptmann namens Grymlis, der in seiner Montur – der grauen Kappe, dem Umhang, der Hose und dem Rock, die sich vom schwarzen Hemd schroff absetzten – groß und breit dastand. Die Paspeln an Rock und Hose zeigten das blaue Garn der Erkundigung, verwoben mit dem Weiß der Bundschaft. Das lange, schmale Schwert blitzte silbern auf, als er es durch die Luft peitschen ließ.
Die Waisen schreckten keuchend zurück, die Spitze des Schwertes hing in der Luft und zeigte auf einen der größeren Jungen. »Was ist mit dir?«
Der Mund des Jungen ging auf und zu.
»Könntest du einen Menschen töten?«
Der Junge warf Schulleiter Tobel, der neben dem Erzgelehrten Demtras und einigen anderen Lehrern stand, einen erschrockenen Blick zu. »Ich bin kein … Ich bin …«
Aber der Hauptmann der Grauen Garde knurrte und ließ das Schwert abermals peitschen. »P’Andro Whym sprach, der Tod eines Menschen sei wie eine brennende Bibliothek voller Wissen und Erfahrung«, sagte der Hauptmann. »P’Andro Whym sprach, das Leben eines anderen zu nehmen, wäre ein noch schlimmeres Vergehen als Unwissen.« Er lachte, ließ sein Schwert herumwirbeln und den Blick über die versammelten Schüler schweifen. »Aber denkt an Folgendes, Jungen: Er sprach auch, dass ihr mehr als alles andere das Wissen hüten sollt, damit es euch auf dem Pfad der Veränderung schützen möge.« Das Schwert pfiff so nahe an Neb vorbei, dass er den Luftzug spüren konnte.
»Und als die Tage des Lachenden Wahnsinns ihren Anfang nahmen«, sagte der Gardist und zitierte die whymerische Bibel, »gab es Soldaten, die zu P’Andro Whym in seine zerschellte Kristallkuppel mit dem Garten kamen und ihn fragten …«
Was müssen wir tun? Wir lesen nicht, wir rechnen nicht, und doch haben wir die Pflicht, das Wissen zu schützen, damit das Licht in den Gedanken der Menschen erhalten bleibt. Die Worte erschienen wie von selbst in Nebs Kopf, Worte aus dem Achtzehnten Evangelium. Und P’Andro Whym blickte sie an und weinte wegen ihrer Ergebenheit gegenüber der Wahrheit und sprach zu ihnen …
»Geht mit meinen Suchern, in die Asche der gestrigen Welt gekleidet, und bewacht, was gefunden wird. Ihr sollt die Gründer schützen. Hebt Männer aus, die es euch gleichtun.«
Das Schwert peitschte abermals. Diesmal zeigte seine Spitze auf Neb. »Was ist mit dir, Junge? Würdest du für die Wahrheit töten? Würdest du töten, um das Licht lebendig zu halten?«
Neb zögerte nicht. »Ich würde dafür sterben, Herr.«
Der alte Hauptmann beugte sich vor, und Neb
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