Psychologische Homöopathie
Beziehung zu einem anderen Menschen zu entwickeln. Lewis schrieb über Sellers: »Er war unfähig, eine stabile Freundschaft einzugehen, zu der Geben und Nehmen gehört.« Statt dessen benutzte er die Leute. Seine Familie beispielsweise beachtete er wochenlang überhaupt nicht und zog sie dann nach der Show auf die Bühne, damit er als Familienvater fotografiert werden konnte. Der Puer weiß genau, wie er bekommt, was er will. Als Sellers wieder einmal der BBC Kopfschmerzen verursachte, weil er sich weigerte, sich an das Manuskript zu halten (das seine Spontaneität einschränkte), und sein Agent Briefe von der Fernsehanstalt bekam, in denen von Vertragsbruch die Rede war, beantwortete Sellers diese Briefe selbst folgendermaßen: Er begann zunächst vernünftig und freundlich, ohne jedoch Reue zu zeigen, und dann beklagte er sich seinerseits darüber, wie er behandelt wurde, flocht ein paar Unwahrheiten ein, um seinen Argumenten mehr Gewicht zu verleihen, bis er am Ende richtig in Fahrt kam und dem Sender gegenüber ausfallend wurde. Dabei war er so geschickt, und seine Talente waren so gefragt, daß er ausnahmslos von den Leuten, die er gerade mißbrauchte, einen Brief der Entschuldigung bekam. Das ist der Stoff, aus dem Diktatoren gemacht sind, und der Mercurius-Puer kann leicht zum Diktator werden, wenn er genügend Macht erlangt.
Der Mercurius-Puer erträgt keine Unannehmlichkeiten. Ich habe einmal ein junges Mädchen im Teenager-Alter wegen Aufmerksamkeitsstörungen behandelt. Sie war intelligent und schnell in ihrer Auffassung, und ihre distanzierte Cleverneß wirkte fast aufreizend. Sie war ein Computerfan und hatte keine Schwierigkeiten, sich am Computer zu konzentrieren, aber in der Schule war sie rastlos und launisch. (Das läßt oft an Mercurius denken, der sich für technische Spielereien begeistern kann, während Menschen ihn langweilen.) Der Vater des Mädchens erzählte mir, sie habe einen sehr starken Willen und breche in wüste Beschimpfungen aus, wenn sie ihren Kopf nicht durchsetzen könne. Er sagte auch, sie habe einen ausgeprägten sechsten Sinn. Er beschrieb, wie sie bei Würfelspielen bestimmte Zahlen erzwingen konnte, und sie bestätigte das. Ihr scharfer, unpersönlicher Intellekt, ihre Ablenkbarkeit, ihre Begeisterung für Computer und ihre medialen Fähigkeiten lenkten meine Aufmerksamkeit auf Mercurius. Wenn sie eine Spritze bekommen mußte, machte sie vorher und nachher Theater wie eine Dreijährige. Wenn sie einen Kratzer hatte, war das der Weltuntergang. Diese extreme Sensibilität gegenüber jeder Unannehmlichkeit bestätigte Mercurius, und das Mittel hatte eine stabilisierende Wirkung auf ihr Verhalten.
Homöopathen wissen, daß Mercurius weder Hitze noch Kälte verträgt. Er wird in der Arzneimittellehre als »menschliches Barometer« beschrieben. Natürlich reagiert auch das Metall Quecksilber selbst extrem stark auf kleine Temperaturveränderungen und wird deshalb im Thermometer benutzt. Ich habe einen Mercurius-Freund, der jedesmal niest, wenn es nur geringfügig kälter wird. Im Auto fummelt er ständig an der Lüftung, der Heizung oder der Klimaanlage herum, um die Temperatur so einzustellen, wie sein Körper es verlangt. Wenn der Wagen sich aus der Sonne in den Schatten bewegt, reguliert er die Luftzufuhr gleich nach, um die Temperatur zu erhöhen, und wenn es sein muß, paßt er sie jede halbe Minute an. Beim Essen ist dieser Mann extrem wählerisch. Im Restaurant nörgelt er am Menü herum und äußert alle möglichen Sonderwünsche, nicht weil er irgendwelche Nahrungsmittel nicht vertragen würde, sondern weil er alles genau nach seinen Vorstellungen haben will. Wenn das Essen etwas zu kalt ist (wobei es für jeden anderen eine normale Temperatur hätte), läßt er es sofort zurückgehen. Er sagt, sein Magen sei sehr empfindlich, und zwar nicht im Hinblick auf spezielle Nahrungsmittel, sondern bezüglich der Ausgewogenheit einer Mahlzeit. Wenn er etwas Bitteres gegessen hat, braucht er deshalb anschließend etwas Süßes als Ausgleich. Wenn das Essen zu schwach gewürzt ist, streut er Salz darauf, und dann ist es zu salzig, deshalb muß er etwas trinkenund so weiter. (Das erinnert mich an eine vergnügliche Restaurantszene in Steve Martins Film L. A. Story , wo eine Gruppe von schick aufgemachten Leuten Kaffee bestellt. Die Bestellung fängt recht konventionell an mit Cappuccino, Espresso und Milchkaffee und wird dann immer affektierter mit Bestellungen wie halb
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