Psychopath
tief durch. Sie würde ihre Suche konzentrieren und von Anfang an Prioritäten setzen müssen. Sie würde auf ihre Intuition vertrauen müssen.
Die Intuition empfahl ihr, zunächst der vagen Möglichkeit nachzugehen, dass der Mörder Pierce gekannt hat. Das hieß, ihre Familie und ihre Kollegen zu befragen. Sie würde außerdem so viele medizinische Einrichtungen wie möglich innerhalb der zweihundertfünfzig Meilen ihres Jagdreviers abklappern müssen. Eins wusste sie sicher: Der Highwaykiller nahm Blut ab wie ein Profi. Das mochte schlicht bedeuten, dass er Sanitäter in der Army gewesen war, wie er behauptete, doch es könnte auch mehr dahinter stecken. Er könnte jetzt Pfleger oder MTA oder sogar Arzt sein. Und wenn das sein Umfeld war, dann musste er eine ziemlich lockere Arbeitsmoral haben, um kreuz und quer durchs Land fahren zu können. Unbegründete Abwesenheiten. Krankmeldungen für Wochen am Stück. Vielleicht war er wegen häufigen Fehlens von einem Krankenhaus gefeuert worden, dann von einem anderen eingestellt, dort ebenfalls gefeuert worden, von einem dritten eingestellt worden und so weiter.
McCormick musste realistisch sein. Es gab keine Garantie, dass er nicht schon in Texas war. Oder in Kalifornien. Oder auf dem Weg nach New Hampshire. Es gab keine Garantie, dass er nicht vor zwanzig oder dreißig Jahren vom RotenKreuz in Florida oder Tennessee oder New Jersey dazu ausgebildet worden war, Blut abzunehmen, und nie einen Fuß in ein Krankenhaus gesetzt hatte. Doch sie war hier in Wyoming, und das Einzige, was sie tun konnte, war, einfach anzufangen. Einen einzelnen Mann an einer zweihundertfünfzig Meilen langen Highwaystrecke zu finden war ein Schuss ins Blaue, aber zumindest lag die Entscheidung allein bei ihr.
Sie stand auf. Ein letzter Adrenalinschub rauschte durch ihre Adern, und sie bekam eine Gänsehaut. Es war ein gutes Gefühl, unterwegs zu sein, auf der Jagd – genau wie der Highwaykiller.
Sie fuhr zurück nach Rock Springs, holte sich zwei Stücke Pizza bei Papa Gino’s um die Ecke vom Marriott und nahm dort kurz vor neunzehn Uhr ein Zimmer. Sie hatte ausgepackt, ihre Akte über den Highwaykiller aufgeschlagen und angefangen, die Beschreibungen der früheren Tatorte durchzugehen, als ihr Handy klingelte. Rufnummer unbekannt. Sie meldete sich.
»He, Whitney«, sagte ihr Vater. Seine Stimme war weich und tief, geschmeidig vom Alter wie ein erlesener Scotch, doch noch immer mit Spuren seiner Kindheit, die er tief in den Sümpfen von Georgia verbracht hatte.
»He«, sagte sie und stand auf. Sie war froh, seine Stimme zu hören, doch auch verlegen, ja sogar ein wenig verängstigt – wie ein Kind, das von zu Hause weggelaufen war. »Was gibt’s?«
»Ich hab gerade einen Anruf von Jake Hanley erhalten.«
»Es steht ihm nicht zu, es dir zu sagen«, sagte sie.
»Du hast es ja nicht getan.«
Sie sah ihn vor ihrem geistigen Auge hinter seinem riesigen Mahagonischreibtisch im Arbeitszimmer auf seiner Farm in Potomac, Virginia, sitzen, breitschultrig und mit silbernen Haaren, in einem breit gestreiften Brooks-Brothers-Hemd,Bundfaltenhose aus Baumwolltwill; während er mit ihr sprach, schaute er aus dem Bogenfenster, das Ausblick auf die schummrig beleuchtete Terrasse bot, wo er ihr vor ihrem ersten Schulball das Walzertanzen beigebracht hatte, dieselbe Terrasse, auf der er sie im Arm gehalten hatte, als sie im Alter von neun über den Tod ihrer Mutter geweint hatte. Manchmal konnte sie noch immer die Zigarre riechen, die an jenem für die Jahreszeit viel zu kalten Abend langsam zwischen den Fingern seiner zitternden Hand herunterbrannte, einer Hand, die ihr unbeschreiblich groß, unbeschreiblich stark vorgekommen war. »Also, was hat er gesagt?«, fragte sie.
»Er hat gesagt, es habe zwischen dir und dem FBI Unstimmigkeiten wegen der Ermittlungen im Highwaykiller-Fall gegeben, und du habest entschieden, dir ein anderes Betätigungsfeld zu suchen. Er hat gesagt, es sei eine schlichte Meinungsverschiedenheit gewesen.«
Oder was sonst?, dachte sie bei sich. Ziehst du sonst für mich in die Schlacht, forderst einen weiteren Gefallen ein, stachelst irgendeinen Senator an, auf Hanley Druck auszuüben? Ein Teil von ihr wollte ihm liebend gern sagen, dass ihr der Highwaykiller-Fall entzogen worden war, weil sie Sex mit Frank Clevenger gehabt hatte, als könne der Schock jener Enthüllung ihn vielleicht endlich dazu bringen, sie als Erwachsene zu sehen. »Das stimmt«, sagte sie. »Eine
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