Psychopath
wurde ganz warm, beinahe liebevoll. »Kein Wunder, dass ich das Gefühl habe, ich könnte Ihnen alles erzählen«, antwortete sie.
Jonah spürte, wie sich seine Muskeln entkrampften, wie seine Haut abkühlte. Er bemerkte, dass sein Kopf nicht mehr wehtat. »Erzählen Sie mir von ihm«, forderte er sie auf.
Und Ally hatte es getan. Ohne dass Jonah drängen oder bohren oder drohen musste, offenbarte sie ihm ihr ganzes Leben. Sie erzählte ihm die Dinge, die sie an ihrem Vater liebte, und die Dinge, die sie hasste. Sie erzählte ihm, wie es gewesen war, in Ithaca, New York, aufzuwachsen. Sie erzählte ihm davon, dass sie mit vierzehn von einem Studenten des Cornell College vergewaltigt worden war. Sie erzählte ihm, dass ihr Vater von ihr hatte wissen wollen, wie sie dem Jungen den Eindruck vermittelt habe, sie wolle Sex mit ihm, und dass ihr Vater sie, während sie weinte, im Arm gehalten und ihr Haar gestreichelt und ihr versprochen habe, alles werde wieder gut. Sie erzählte ihm, dass sie wünschte, sie könne jetzt für ihn das Gleiche tun. Sie erzählte ihm, dass ihre Mutter, eine religiöse Frau, neu verheiratet war und ihren Vater nur zweimal im Krankenhaus besucht hatte. Sie erzählte ihm, dass ihr älterer Bruder in einer Bundesstrafanstalt einsaß, verurteilt zu zehn Jahren für den Transport von Kokain über eine Staatsgrenze. Sie erzählte ihm, dass die Erinnerungen an die Vergewaltigung es ihr noch immer schwer machten, sexuelle Erfüllung zu finden.
Ally Bartlett, entschied Jonah, war tatsächlich ein Engel. Und er hatte sie in jener Nacht mit zu sich nach Hause genommen und sie geliebt und bei ihr geschlafen. In jener Nacht und nie wieder. Denn er wusste, dass Ally ihn irgendwann in der gleichen Weise kennen lernen wollen würde, wie sie es ihm erlaubt hatte, sie kennen zu lernen. Sie würde sich nicht mit den Bruchstücken von Leben, die er von anderen zusammengeklaubt hatte, begnügen.
Jonah setzte sich im Bett auf. Die Erinnerung an Ally Bartlett, wie die Erinnerungen an seine Patienten in der geschlossenen Abteilung des Canaan Memorial, verstärkten nur sein Gefühl der Einsamkeit. Seine Wohnung kam ihm zunehmend mehr wie ein Gefängnis denn wie eine Festung vor.
Es war fast zwei Uhr. Er hungerte danach, durch die Straßen zu streifen. Er hungerte danach, jemanden zu finden. Jemanden zu haben. Er griff nach dem Röhrchen Haldol auf seinem Nachttisch, öffnete es und kaute drei Milligramm von dem Zeug, und die Tablettensplitter kratzten in seinem Hals, als er sie seine Kehle hinunterzwang. Dann schaute er durch die Schlafzimmertür auf seine alte Aktentasche, die im Wohnzimmer auf dem Fußboden stand.
Er wollte es nicht tun. Es war schmutzig und widerlich, und er wusste nicht einmal, welcher Teufel ihn auch nur auf den Gedanken brachte, es zu tun. Vielleicht war es eine Fehlsteuerung in seinem Gehirn, irgendein genetisch programmierter abartiger Appetit. Vielleicht war es ein Überrest primitiver Lust am Ritual, tief vergraben im Gewirr aus Milliarden von Neuronen, aus denen seine Großhirnrinde bestand. Leute wurden ja auch gelegentlich mit Schwimmhäuten an Händen und Füßen geboren. Vielleicht war es in seinem Fall eine Verhaltensrückentwicklung.
Was immer auch seine Wurzeln sein mochten, welche seltsame Macht es auch immer besitzen mochte, sobald er zum ersten Mal dem Verlangen nachgegeben hatte, wurde es praktisch unmöglich, einer Wiederholung zu widerstehen. Denn ansatzweise stillte es tatsächlich seinen Hunger. Wenn er tagelange Einsamkeit durchlitten hatte, konnte es ihn manchmal jene letzten schrecklichen Stunden überstehen lassen.
Er stand auf. Er ging ins Wohnzimmer, nahm seine Aktentasche vom Boden und setzte sich auf die Couch. Er löste einen der Riemen, dann den anderen. Er stellte die Rädchen am Schloss auf die richtige Kombination ein und ließ es aufschnappen. Dann zog er die beiden Klappen weit auf, griff hinein und holte ein kleines schwarzes Lederetui heraus, von der Art, in der man eine Blutdruckmanschette oder einen geheimen Schatz an Diamanten verwahren mochte.
Er lehnte sich auf der Couch zurück, tätschelte das Etui und fühlte das Glasröhrchen darin. Gelegentlich genügte es, das Röhrchen zu berühren, zu wissen, dass es da war. Doch heute Nacht würde es nicht genügen. Er schwitzte bereits. Ihm lief bereits das Wasser im Mund zusammen. Er stellte sich bereits das Entsetzen in Anna Beckwiths Augen in jener Nacht an der Route 90 East vor.
Er öffnete den
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