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Psychopath

Psychopath

Titel: Psychopath Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Ablow
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Reißverschluss des Etuis und holte das Objekt seines Begehrens heraus – ein halb mit Blut gefülltes Reagenzröhrchen. Er rollte es zwischen seinen Händen, um es anzuwärmen. Er ließ den Glasboden über seine Lippen gleiten, dann weiter in seinen Mund hinein, bis er die kostbare Flüssigkeit beinahe schmecken konnte.
    Schuldgefühle übermannten ihn. Scham. Aber warum? Konnte man einen Säugling dafür verurteilen, dass er sich an der Brust seiner Mutter nährte? Fühlten Kirchgänger sich schuldig, weil sie den Leib Christi verzehrten? Waren wir nicht alle letztendlich Teil eines einzigen erhabenen Wesens? Und wenn Jonah dies mehr als andere empfand, es besser wusste als andere, war das zu verurteilen?
    Er rutschte von der Couch und sank auf seine Knie. Er zog den lilafarbenen Stöpsel aus dem Reagenzglas. Er ließ einige Tropfen Blut auf seine Zunge laufen, verteilte einen weiteren Tropfen auf seinen Lippen, dann verschloss er das Reagenzröhrchen wieder sorgfältig mit dem Stöpsel. Das Blut war warm und schmeckte salzig, schmeckte nach Geburt und Tod und, was am wichtigsten war, nach anderen. All den anderen. Eine überwältigende Collage ihrer Leben, die sich, nunmehr unbehindert von Persönlichkeitsgrenzen, in ihm vermischten. Eine Wiedergeburt des Urmeeres, aus dem einst alles Lebenentsprungen war. Fast augenblicklich begann er, sich zu entspannen. Binnen einer halben Minute hatte er wahren Frieden gefunden. Sein Herz schlug langsamer, und seine Atemzüge beruhigten sich. Der Schmerz in seinem Kopf verflog und ließ nur ein angenehmes Prickeln an seinen Schläfen und in seinem Nacken zurück. Mit Gottes Gnade würde er die Nacht durchstehen. Er würde es bis zum Morgen schaffen, wo Naomi auf ihn wartete und Tommy und Mike und Jessie und Carl und der Rest von ihnen. Der Rest von ihm.
     
    Der Morgen kam nieselnd und grau und kalt. Jonah eilte zur geschlossenen Abteilung und traf kurz nach sieben ein, wie es seine Gewohnheit geworden war. Er genoss es, so früh dort zu sein, weil die Station dann noch nicht ihren geordneten Rhythmus gefunden hatte. Keiner der anderen Psychiater war da. Das Pflegepersonal wechselte – die Nachtschwestern gingen, die Tagesschwestern kamen. Einige der Patienten schliefen noch, andere rieben sich den Schlaf aus den Augen, wieder andere waren noch immer benommen von einer Nacht ohne jeden Schlaf. Einige kamen frisch aus der Dusche, andere trugen noch Pyjamas. Die meisten ihrer Betten waren ungemacht. Jonah konnte den lieblichen Moschusduft ihrer Laken, Kissenhüllen und Decken riechen, ihr verklettetes und zerzaustes Haar, ihren Nachtschweiß. Es war die Zeit des Tages, da diese Fünf- und Sechs- und Zehnjährigen, abgeschnitten von der Außenwelt, das stärkste Heimweh hatten, sich in der Einrichtung am meisten eingesperrt fühlten, und es war die Zeit, da sich Jonah am meisten gebraucht und am stärksten zu Hause fühlte, am deutlichsten als Teil seiner selbst geschaffenen Familie.
    Er ging schnurstracks zum Zimmer von Naomi McMorris. Ihre Tür war nur angelehnt. Er schaute ins Zimmer und sah, dass sie wach im Bett lag, ihr blondes Haar auf ihrem Kissenausgebreitet, in der Faust das Schlappohr eines rosa Stoffhasen. Er klopfte leise, drückte die Tür ein Stück weiter auf und wartete, bis sie ihn ansah. Als ihre Augen ihn fanden, schien all die Liebe, die in ihm angestaut war, zu fließen zu beginnen, und er empfand jene Art erhabener Erlösung, die seiner Vorstellung nach eine Frau fühlte, wenn ihr Säugling begann, an ihrer geschwollenen Brust zu saugen. »Du hast niemandem unser Geheimnis erzählt, oder?«, fragte er.
    Sie setzte sich im Bett auf und schüttelte ihren Kopf.
    »Gut.«
    »Hast du?«, fragte sie.
    Jonah lief es kalt den Nacken hinunter. Naomi wollte ihn ganz und gar, so wie er sie ganz und gar wollte. »Niemals«, sagte er.
    »Gut.«
    Jonah zwinkerte. »Bis nachher dann?« Sie nickte.
    Er wandte sich zum Gehen.
    »Ich hab von dir geträumt«, sagte sie.
    Jonah erstarrte, wollte nicht glauben, dass er tatsächlich gehört hatte, was er zu hören vermeint hatte – dass Naomi und er gestern Nacht zusammen gewesen waren, wenngleich er in seiner Wohnung im Bett gelegen und an die Decke gestarrt hatte. Er trat ins Zimmer und wartete.
    »Willst du, dass ich’s dir erzähle?«, fragte sie schließlich.
    »Bitte«, sagte er.
    »Wir sind an einem wirklich tiefen See spazieren gegangen«, begann sie. »Die Sonne hat geschienen, und es war warm und wunderschön, und

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