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Psychopath

Psychopath

Titel: Psychopath Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Ablow
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Naomi McMorris, die im Alter von drei vergewaltigt worden war. Sie hatte die erste halbe Stunde, die sie zusammen verbracht hatten, stumm in seinem Büro gesessen und ihre Kleinmädchenbeine baumeln lassen, zu verängstigt, um ihn länger als einen Augenblick anzusehen. Sie war wunderschön, wenn auch mager, mit glatten, blonden Haaren und grünblauen, seelenvollen Augen, die viel zu viel wussten für jemanden in ihrem Alter, Augen, die verrieten, wie viel menschliche Grausamkeit sie viel zu früh in ihrem jungen Leben gesehen hatte. Der Freund ihrer Mutter, der sie vergewaltigt hatte, war längst auf und davon, doch er hatte erwachsenes, fremdes Wissen in ihr zurückgelassen. Das war der Grund, weshalb Naomi sich regelmäßig Schnitte zufügte und sich, wenn sie kein Messer oder keine Gabel oder keinen zerbrochenen Bleistift in die Finger bekam, mit ihren Fingernägeln die Handgelenke aufkratzte, um zuzuschauen, wie das Blut hervorquoll. Denn eine Sechsjährige hat keine Worte für das Grauen, den unaussprechlichen Schmerz, die Verzweiflung, fühlen zu müssen, wie jemand in sie eindrang – tief in ihr innerstes Wesen eindrang. Sich mit eigener Hand aufzuschneiden konnte die Geschichte ohne Worte erzählen – vom Verlust der Unverletzlichkeit ihres Körpers, von der warmen, roten Flüssigkeit, die auf den Teppich tropfte. Wieder und wieder trat sie aus ihrem Zimmer in der geschlossenen Abteilung oder stand in der Kantine auf und hielt triumphierend ihre blutenden Handgelenke hoch, so als wolle sie sagen: »Lasst es kein Geheimnis mehr sein. Ich bin zerrissen worden.«
    Bevor er in den Ruhestand ging, hatte Dr. Wyatt in Naomis Krankenblatt schriftlich Anweisung gegeben, für ihre Sicherheit zu sorgen. Er hatte angeordnet, dass ihr jeden zweiten Tag die Nägel abgefeilt werden sollten, dass ihr kein Zugriff auf scharfkantige Gegenstände gestattet werden dürfe und dass alle fünf Minuten jemand nach ihr sehen müsse. Das waren vernünftige Maßnahmen, um sie davon abzuhalten, sich zu schneiden. Ebenso wie die 75 Milligramm Zoloft, die sie jeden Morgen einnehmen sollte, um ihre Stimmung zu heben, die 2,5 Milligramm Zyprexa, die sie jeden Nachmittag einnehmen sollte, um ihren inneren Aufruhr zu bändigen, und die 25 Milligramm Trazodon, die sie jeden Abend einnehmen sollte, um Albträume abzuwehren.
    Das Problem war, dass Naomi vor allem innerlich blutete. Sie davon abzuhalten, ihre Haut aufzuschneiden, verhinderte nicht, dass die Scherben ihrer zerstörten Kindheit still und leise ihre Psyche zerrissen.
    Jonah wusste, dass er niemals auf die übliche Weise Zugang zu einem Mädchen wie Naomi finden würde. Sie würde sich ihm nicht öffnen, nur weil er »Doktor« genannt wurde oder versprach, ihr nicht wehzutun. Er musste ein Opfer sein wie sie. Er musste sich ihren Instinkt zunutze machen, andere Menschen trösten und beschützen zu wollen, ein Instinkt, der Traumata oft überlebte, sogar durch sie verstärkt wurde.
    »Ich mag es hier nicht«, hatte Jonah ihr gestanden, nachdem er jene halbe Stunde schweigend mit ihr zusammengesessen hatte.
    Naomi hatte nichts gesagt, aber sie hatte ihn zum ersten Mal wirklich angesehen.
    »Ich hasse es hier«, sagte er.
    Wieder ein Blick von ihr. Ein Achselzucken. Dann, die Augen starr auf ihre baumelnden Füße gerichtet: »Wieso?«
    Wieso? Ein Wort, fünf Buchstaben, doch eine Öffnung, die nicht weniger wundersam war als die Teilung des Roten Meeres beim Zug der Juden ins Gelobte Land. Eine sechsjährige Seele, noch immer unvertraut mit dieser schrecklichen Welt, lud ihn in ihr Innerstes ein. Ihn, besudelt von vier Jahrzehnten auf diesem Planeten. Ihn, dessen Sünden keine Worte kannten. Lud ihn ein, zu ihr zu kommen. Zu Gott. »Versprichst du, dass du es niemandem erzählst?«, fragte er sie.
    Sie nickte.
    »Schwörst du?«
    »Ich schwöre«, versprach Naomi.
    »Sie sind gemein zu mir«, sagte Jonah.
    Ihre Beine hörten auf zu schwingen. »Wer?«
    »Die anderen Ärzte.«
    Sie wandte ihren Blick nicht ab. »Wie denn? Was tun sie dir?«
    »Sie hänseln mich. Machen sich über mich lustig.«
    »Warum?«
    »Ich schätze, weil sie mich nicht mögen.«
    »Sie mögen dich nicht?«, fragte sie.
    »Sie wollen mich nicht hier haben. Sie wollen nicht meine Freunde sein.«
    »Warum nicht?«
    Er zuckte mit den Achseln. Ein Sechsjähriger wäre außerstande zu begreifen, warum andere Sechsjährige ihn nicht mochten. Und für den Moment war Jonah sechs und freundete sich mit einer

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