Psychopath
Bartlett«, stellte sie sich vor. Sie sah die Straße hinunter. »Er sollte jetzt jeden Moment kommen«, sagte sie.
Sein Hunger hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, und er begann zaudernd, sie auszuhorchen. »Hatten Sie schöne Feiertage?«
»Es war eine Katastrophe«, sagte sie mit einem noch breiteren Lächeln.
»Warum denn das?« Er fand, dass er verzweifelt klang. »Was war denn so katastrophal?«
Das Lächeln erlosch. »Das ist eine lange Geschichte.«
Ally schloss also bereits die Tür. Köderte ihn mit Freundlichkeit, nur um ihn dann draußen stehen zu lassen. In der eisigen Kälte. Sie würde einem Obdachlosen, der an einer Straßenecke um Geld bettelte, mehr geben. Doch ihn, Jonah, würde sie bedenkenlos am langen Arm verhungern lassen. Jonah, einen Mann, der sein Leben dem Heilen anderer gewidmet hatte, würde sie kaltschnäuzig ignorieren. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich zerspringen. Er stellte sich vor, wie an seiner Gehirnbasis die Basilararterie pulsierte und in den Gewebefasern ihrer Wände wütend die Nervenzellen kreischten, weil sie sich mit jedem Schlag seines Herzens dehnten. Er musste sich Erleichterung verschaffen, wenn auch nur die Erleichterung, die sich aus Allys erstickten Schreien, in ihren angstgeweiteten Augen, ihren Schmerzen gewinnen ließ. Ergriff in seine Tasche und umklammerte das Stilettmesser, das er bei sich trug. Er warf einen Blick auf die praktisch leere Bar hinter ihnen, dann schaute er sich auf der Straße um. Sie waren allein. »Wo bleibt denn nur der Bus?«, sagte er mit zitternder Stimme. Er stand auf. Und er wäre zu ihr getreten und hätte – mit ebenso wenig innerer Befriedigung wie Abraham, als er seinen Dolch über Isaak hielt – das Leben genommen, das er brauchte, das Leben, das Gott ihm anbot. Doch sie sprach.
»Ich weiß, es klingt wahrscheinlich verrückt«, sagte sie, »aber hätten Sie vielleicht Lust auf einen Drink oder so? Ich meine, man weiß nie, wen man trifft – oder warum.«
Einen Drink oder so. Jonah lockerte seinen Griff um das Messer und atmete tief durch.
Ally legte ihren Kopf zur Seite. »Ich meine, Sie sind hier. Und ich bin hier. Kein Bus in Sicht. Es ist arschkalt. Und keine fünf Meter entfernt ist eine Bar.« Sie hob ihre Hände. »Es ist beinahe so, als wolle Gott uns etwas sagen, finden Sie nicht auch?«
»Bei Gott kann man da nie sicher sein«, erwiderte Jonah. Er tat so, als würde er zaudern. Er ließ das Messer los. »Warum nicht?«, stimmte er schließlich zu.
Die beiden setzten sich an einen Tisch an der Rückwand des Sawyer’s Grub and Pub und bestellten zwei Bier.
»Sie haben eine unglaubliche Stimme«, sagte Ally »Sagen Ihnen die Leute das?«
»Gelegentlich.«
»Sie ist beinahe seltsam.«
Jonah zog eine Augenbraue hoch.
»So hab ich das nicht gemeint«, sagte sie mit einem hellen Lachen. »Nicht merkwürdig seltsam. Seltsam auf eine gute Art. Nett. Aber noch mehr als nett. Tröstend oder so was.«
»Also, warum waren Ihre Feiertage so eine Katastrophe?«, fragte Jonah
Sie starrte in ihr Bier. »Sie sind sehr beharrlich, stimmt’s?« »Das höre ich immer wieder.«
Sie sah ihn an. »Mein Vater ...«, ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, und sie kniff die Augen zusammen, »... stirbt.« Dann begann sie zu weinen.
Jonah hatte es schier die Sprache verschlagen. Vielleicht hatte Gott ihm ungeachtet dessen, wozu er geworden war, trotz all der schrecklichen Dinge, die er getan hatte, einen Engel gesandt.
Ally öffnete ihre Augen und sah ihn wieder an. Sie wischte sich die Tränen ab, doch es kamen immer mehr und mehr. »Es tut mir Leid. Ich hab Sie nicht aufgefordert, mit mir hierher zu kommen, nur um mich dann so gehen zu lassen. Ich kann nur irgendwie nicht ...«
»Nicht ...« Er beugte sich vor.
Sie ließ die Tränen ungehindert über ihr Gesicht strömen. »Damit fertig werden.«
Jonah griff über den Tisch und umfasste ihre Hand mit seinen beiden. Sie wehrte sich nicht gegen seine Berührung. »Woran stirbt Ihr Vater?«, fragte er sie.
»An einer Art Virusinfektion des Herzens«, sagte sie. »Es ist angeschwollen und pumpt nicht richtig. Endo...«
»Infektiöse Endokarditis«, sagte er.
Sie trocknete sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die Augen. »Sie sind wirklich Arzt.«
»Bin ich wirklich.«
»Ein Herzspezialist?«, fragte sie.
»In gewisser Hinsicht schon. Ich bin Psychiater.«
Sie lächelte wieder. »Ah, kein Wunder«, bemerkte sie.
»Was ist kein Wunder?«
Ihr Lächeln
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