Psychopathen
Verträglichkeit. 30
So stellten Saulsman und Page fest, dass Störungen, die besonders stark durch emotionales Leid charakterisiert sind (z. B. die Paranoide, Schizotypische, Borderline, Vermeidend-Selbstunsichere und Dependente Persönlichkeitsstörung), in enger Verbindung zum Neurotizimus stehen, während Störungen, die eher durch interpersonelle Schwierigkeiten gekennzeichnet sind (z. B. die Paranoide, Schizotypische, Antisoziale, Borderline und Narzisstische Persönlichkeitsstörung), vielleicht nicht weiter überraschend in die Dimension Verträglichkeit fallen. Zum Verständnis der Störungen konnten ebenso die Dimensionen Extraversion und Gewissenhaftigkeit herangezogen werden, wenn auch in geringerem Maße. Bei Störungen beiderseits dessen, was wir als die Kluft zwischen Salonlöwe und Einsiedler bezeichnen könnten (die Histrionische und Narzisstische auf der einen; die Schizoide, Schizotypische und Vermeidend-Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung auf der anderen Seite), wurden in der Dimension Extraversion eine hohe bzw. geringe Punktzahl erzielt, während dies bei Störungen zu beiden Seiten der Easy-Rider-Kontrollfreak-Grenze (Antisoziale und Borderline im einen, Zwanghafte im anderen Lager) in der Dimension Gewissenhaftigkeit der Fall war.
Die Sache scheint ziemlich klar zu sein. Wenn die omnipotenten Big Five unser Persönlichkeits-Sonnensystem bilden, dann bilden die Konstellationen, die für Störungen charakteristisch sind, zweifellos einen Teil des Firmaments.
Aber wo, lautet wiederum die Frage, sind die Psychopathen einzuordnen?
Die Maske der Normalität
Psychopathie taucht – wie die Persönlichkeit selbst – erstmals in ausnehmend schelmischer, wenn auch unmissverständlicher Form in den Überlegungen der alten Griechen auf. In seiner Schrift ›Charaktere‹ beschreibt der Philosoph Theophrast (ca.371–287 v. Chr.), Nachfolger des Aristoteles als Haupt der Peripatetischen Schule in Athen, auf brillante Weise dreißig moralische Charaktere. 31 Eine dieser Beschreibungen mutet sehr bekannt an.
So lamentiert Theophrast über den Skrupellosen: »Erst geht er zu einem, den er um das Seine gebracht hat, hin und borgt von ihm ... Auch erinnert er, wenn er zum Essen einkauft, den Fleischhändler daran, wenn er ihm irgendwie von Nutzen gewesen ist, und während er bei der Waage steht, wirft er dazu am liebsten ein Stück Fleisch, sonst einen Knochen für die Suppe; bekommt er’s, ist es gut, wo nicht, entrafft er vom Tische einen Darm und macht sich unter Lachen davon.« 32
Und ja, er machte sich unter Lachen davon.
Doch lassen Sie uns ein paar Tausend Jahre weiterspulen, zum frühen 19. Jahrhundert, und der Skrupellose kehrt zurück, dieses Mal als einer der wichtigsten metaphysischen Spieler in der Debatte über den freien Willen. War es vielleicht möglich, so mutmaßten Philosophen und Ärzte, dass bestimmte moralische Missetäter, bestimmte gewissenlose Taugenichtse nicht einfach »schlecht« waren, sondern im Gegensatz zu anderen Schurken kein oder wenig Verständnis für die Folgen ihres Handelns hatten? Einer von ihnen war davon überzeugt.
1801 kritzelte ein französischer Arzt namens Philippe Pinel die Worte
manie sans délire
in sein Notizbuch, nachdem er entsetzt dabei zugesehen hatte, wie vor seinen Augen ein Mann ganz gelassen, ruhig und gefasst einen Hund tottrat. 33 Danach verfasste Pinel einen sorgfältigen, umfassenden – und auch für heutige Leser äußerst akkuraten – Bericht über dieses Syndrom. Abgesehen davon, dass dieser Mann nicht das geringste Anzeichen von Reue gezeigt hatte, schien er in fast jeder anderen Hinsicht geistig gesund zu sein. Er wirkte – um einen Ausdruck zu prägen, dem viele, die seitdem mit Psychopathen in Kontakt gekommen sind, zustimmen – »verrückt, ohne verrückt zu sein«.
Manie sans délire.
Wie sich herausstellte, stand der Franzose mit seinen Gedankennicht allein da. Benjamin Rush, ein Arzt, der Anfang des 19. Jahrhunderts in den USA praktizierte, hatte ähnliche Berichte verfasst: über ebenso abscheuliche Verhaltensweisen und ebenso sorglose Gedankenprozesse. »In allen diesen Fällen angebohrner unnatürlicher moralischer Verderbtheit«, so Rush, »ist wahrscheinlich ein ursprünglicher Organisationsfehler derjenigen Körpertheile vorhanden, welche den moralischen Fähigkeiten (Vermögen) der Seele vorstehn.« 34 »Der Wille«, heißt es an anderer Stelle, wird in vielen Fällen auch dann »krankhaft abweichend«, wenn
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