Psychopathen
den jungen Mann untersucht, stellt er fest, dass dessen Organe mit allen fünfen seiner sterbenden Patienten kompatibel sind. Außerdem würde niemand den Arzt verdächtigen, sollte der junge Mann verschwinden. Wäre es richtig, wenn der Arzt den jungen Mann töten würde, um seine fünf Patienten zu retten?
Auch dieses moralische Problem wurde erstmals von Judith Jarvis Thomson beschrieben, der Autorin des Experiments mit der Straßenbahn und dem fetten Mann, mit dem wir uns in Kapitel 1 befasst haben. 37 Obwohl man sicher darüber diskutieren könnte, lösen die meisten Menschen das Dilemma sehr schnell. Es ist moralisch verwerflich, wenn der Arzt dem jungen Mann das Leben nimmt. Kein Arzt hat das Recht, einen Patienten zu töten, egal wie human oder mitfühlend die Rechtfertigung im Moment auch scheinen mag. Es wäre ganz einfach Mord. Doch welche Ansicht würde jemand wie Joe vertreten?
»Ich sehe, wo das Problem liegt«, sagte er nüchtern. »Wenn man einfach nur das Zahlenspiel spielt, ist es verdammt einfach, das Problem zu lösen, stimmt’s? Du bringst den Typen um undrettest fünf andere. Es ist Utilitarismus auf Crack ... Der Trick ist, nicht zu viel darüber nachzudenken ... Wenn ich der Arzt wäre, würde ich mir keine großen Gedanken machen. Es sind fünf für den Preis von einem, oder? Fünf gute Nachrichten – ich meine, was ist mit den Familien von diesen Typen? – gegen eine schlechte. Das ist doch kein schlechtes Geschäft, oder?«
»Sie gehen mit Gefühlen wie Buchhalter um«, sagte mir ein forensischer Psychiater, als wir in seinem Büro saßen und uns über Psychopathen unterhielten.
Was Joes Fall nur zu bestätigen scheint.
Identitätskrise
Die Überzeugungskraft des Psychopathen ist einzigartig; seine psychologischen Fähigkeiten, Safes zu knacken, sind legendär. Und Joe, der Killer, der Vergewaltiger, mit den eisig blauen Augen und dem IQ eines Genies war sicher keine Ausnahme von der Regel. Tatsächlich kann es beim Gespräch mit einem Psychopathen schwierig sein zu glauben, dass überhaupt etwas nicht stimmt – wenn man es nicht besser weiß. Was einer der Gründe dafür ist, warum sich eine präzise Klassifikation der Störung, der alle zustimmen können, als so schwierig erwiesen hat.
Vor drei Jahrzehnten erhielt die Psychopathie schließlich ihre klinische Greencard, als Robert Hare (dem wir in Kapitel 1 begegnet sind) 1980 seine Psychopathie-Checkliste vorstellte, einen Test zur Aufdeckung der Störung (den viele noch immer für den besten halten). 38 Die Checkliste – die 1991 ein Facelift erhielt und seitdem als revidierte Psychopathie-Checkliste (PCL-R) bekannt ist – umfasst 20 Items, bei denen maximal eine Punktzahl von 40 erreicht werden kann (jedes Item wird anhand einer 3-Punkt-Skala bewertet: 0 = Merkmal nicht vorhanden; 1 = Merkmal ist teilweise erfüllt; 2 = Merkmal ist vorhanden). 39 Hare entwickelte sie auf der Basis seiner eigenen klinischenBeobachtungen und der Beobachtungen von Hervey Cleckley in Georgia.
Die meisten von uns erzielen rund zwei Punkte. Als pathologisch gilt ein Wert von 27. [11]
Angesichts der Arbeitsweise von Persönlichkeitstheoretikern überrascht es vielleicht nicht, dass man die 20 Items der PCL-R bei zahlreichen Gelegenheiten so wie die 240 Items des NEO einem Faktorenanalyse genannten statistischen Kartenmischspiel unterzogen hat. Die Spielergebnisse haben im Lauf der Jahre variiert, doch neuere Untersuchungen einer Reihe klinischer Psychologen legen nahe, dass – entsprechend den fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit im Allgemeinen – im gespenstischen Psychopathennebel vier Hauptdimensionen lauern (siehe Tabelle 2.4). 40
Tabelle 2.4. Vier-Faktoren-Modell der Psychopathie (nach Hare 2003)
Psychopathie ist mit anderen Worten eine Störung, die sich aus einer Vielzahl miteinander zusammenhängender Komponenten zusammensetzt, die in unterschiedlichen Dimensionen und diskret und unabhängig voneinander auf verschiedenen Spektren angeordnet sind: interpersonell, affektiv, auf den Lebensstil bezogen und antisozial – ein Hexengebräu aus Persönlichkeitsdefiziten.
Aber welche dieser Spektren sind am wichtigsten? Ist jemand, der z. B. beim Faktor antisozial eine hohe Punktzahl erreicht und beim Faktor interpersonell eine niedrige, eher ein Psychopath als jemand mit genau dem entgegengesetzten Profil?
Fragen wie diese tauchen in der Schlacht um die Psyche der Psychopathen, in den empirischen und diagnostischen Kampfzonen der
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