Psychopathen
der Verstand gesund ist. Er wird »... durch das mechanische Wirken der Leidenschaften das unwillkührliche Vehikel krankhafter Thätigkeiten«. 35
Rush nahm schon damals die Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften vorweg, dass der neurale Tsunami der Verrücktheit nicht unbedingt auf apokalyptische Weise die Ufer der Logik überschwemmen muss. Dass man gleichzeitig zurechnungsfähig und »unzurechnungsfähig« sein kann.
Anderthalb Jahrhunderte später bietet uns der amerikanische Mediziner Hervey Cleckley am Medical College of Georgia ein detaillierteres Inventar von
la folie raisonnante
. In seinem 1941 veröffentlichten Buch ›The Mask of Sanity‹ zeichnet Cleckley das folgende, etwas eklektische Phantombild des Psychopathen. 36 Der Psychopath, so Cleckley, ist eine intelligente Person, charakterisiert durch Gefühlsarmut, fehlendes Schamgefühl, Egozentrik, oberflächlichen Charme, fehlende Schuldgefühle, Angstlosigkeit, Immunität gegen Bestrafungen, Unberechenbarkeit, Unverantwortlichkeit, manipulatives Verhalten und viele kurzzeitige Beziehungen – weitgehend dasselbe Bild, das die Kliniker des 21. Jahrhunderts von dieser Störung haben (obwohl wir mithilfe von laborgestützten Forschungsprogrammen und der Entwicklung von Techniken wie EEG und fMRT nun anfangen, zu einem besseren Verständnis der Ursachen zu gelangen).
Eingestreut in Cleckleys Porträt sind geradezu genial anmutende Pinselstriche. Der Psychopath, so heißt es, besitzt »Gerissenheitund geistige Agilität«, ist »unterhaltsam« und zeichnet sich durch einen »außergewöhnlichen Charme« aus. In einer denkwürdigen Passage beschreibt er die Funktionsweise des Verstands dieser sozialen Chamäleons, das Alltagsleben hinter dem eisigen Vorhang der Gefühllosigkeit:
»Der [Psychopath] ist nicht vertraut mit den primären Fakten oder Daten dessen, was wir als persönliche Werte bezeichnen könnten, und ist völlig unfähig, derlei Dinge zu verstehen. Er ist nicht in der Lage, auch nur das geringste Interesse an der Tragödie, der Freude oder dem Streben der Menschheit aufzubringen, wie es in der ernsthaften Literatur oder Kunst dargestellt wird. Auch im wirklichen Leben zeigt er Gleichgültigkeit gegenüber all diesen Dingen. Schönheit und Hässlichkeit, Gut und Böse, Liebe, Schrecken und Humor haben – außer in einem sehr oberflächlichen Sinn – keine Bedeutung für ihn und keine Macht, ihn zu rühren.
Des Weiteren fehlt ihm die Fähigkeit zu erkennen, dass andere gerührt sind. Es ist, als wäre er trotz seines scharfen Verstandes blind gegenüber diesem Aspekt der menschlichen Existenz. Man kann es ihm nicht erklären, weil es in seiner Bewusstseinssphäre nichts gibt, was, um diese Lücke zu schließen, zum Vergleich herangezogen werden könnte. Er kann die Worte wiederholen und leichthin sagen, dass er versteht, und es ist ihm unmöglich zu erkennen, dass er nicht versteht.«
Der Psychopath, so heißt es, versteht die Worte, aber nicht die Musik der Emotion.
Bei einer meiner allerersten Begegnungen mit einem Psychopathen erhielt ich eine deutliche Kostprobe davon, worauf Cleckley hinauswollte. Joe war 28, sah besser aus als Brad Pitt und hatte einen IQ von 160. Warum er das Bedürfnis verspürt hatte, dieses Mädchen auf dem Parkplatz bewusstlos zu schlagen, mit ihr zum Rand dieser nördlichen Stadt zu fahren, sie mit vorgehaltenem Messer wiederholt zu vergewaltigen, ihr dann die Kehle aufzuschlitzen und sie in einem verlassenen Industriepark mit dem Gesicht nach unten in diesen Containerzu werfen, ist unbegreiflich. Teile ihrer Leiche wurden später in seinem Handschuhfach gefunden.
Ich saß Joe in einem stickigen Besucherraum gegenüber, in dem es nach Desinfektionsmitteln roch – fünf Jahre später und eine Million Meilen entfernt von seinem städtischen Schlachtfeld. Mein Interesse galt seiner Art der Entscheidungsfindung, den zufälligen Einstellungen auf dem moralischen Kompass seines Gehirns. Um darüber mehr zu erfahren, hatte ich eine Geheimwaffe, einen teuflischen psychologischen Trick auf Lager. Ich konfrontierte Joe mit folgendem Dilemma:
Ein brillanter Transplantationschirurg hat fünf Patienten. Jeder der Patienten braucht ein anderes Organ und jeder von ihnen wird ohne dieses Organ sterben. Leider ist derzeit keines dieser Organe erhältlich, um die Transplantation durchzuführen. Ein gesunder junger Mann kommt auf der Durchreise in die Praxis des Chirurgen zu einem Routine-Check-up. Während der Arzt
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