Psychopathen
eine entsprechend niedrige bei Kaltherzigkeit. Und bei mir könnte es genau umgekehrt sein.«
Lilienfelds Vorstellung, dass die Psychopathie auf einem Spektrum angelegt ist, macht jede Menge Sinn. Wenn die Psychopathie als eine Erweiterung der normalen Persönlichkeit verstanden wird, dann folgt daraus, dass sie selbst in Zahlenwerten darstellbar sein muss. Und dass mehr oder weniger davon in jedem beliebigen Kontext von beträchtlichem Vorteil sein könnte. Eine solche Prämisse ist nicht neu in den Annalen dermentalen Dysfunktion (falls die Psychopathie in Anbetracht der Vorteile, die sie unter bestimmten Umständen mit sich bringt, tatsächlich dysfunktional
ist
). Beim autistischen Spektrum haben wir es z. B. mit einem Kontinuum der Anormalität in Bezug auf soziale Interaktionen und Kommunikation zu tun, das von schweren Beeinträchtigungen am »tiefen Ende« – denen, die schweigen, geistig behindert und in stereotypen Verhaltensweisen wie Kopfrollen oder Körperschaukeln gefangen sind – bis zu milden Beeinträchtigungen am »flachen Ende« reicht: gut funktionierenden Individuen mit aktiven, aber eindeutig seltsamen interpersonellen Strategien, sehr eingeschränkten Interessen, einem starken Bedürfnis nach »Gleichförmigkeit« und dem starren Festhalten an Regeln und Ritualen. 48
Weniger vertraut, aber gleichermaßen relevant ist das schizophrene Spektrum. 49 Forschungen zum Konstrukt der Schizotypie weisen darauf hin, dass psychotische Erfahrungen der einen oder anderen Art (normalerweise der harmlosen und nicht leidvollen Variante) unter der Allgemeinbevölkerung insgesamt relativ weit verbreitet sind und dass die Schizophrenie nicht kategorial – man hat sie oder hat sie nicht –, sondern dimensional betrachtet werden sollte, und zwar mit willkürlichen Cut-off-Werten zwischen normal, seltsam und krank. Innerhalb dieses Rahmens wirken die Symptome der Schizotypischen Persönlichkeitsstörung (seltsame Überzeugungen; seltsame Sprechweise; exzentrischer interpersoneller Stil) wie die Anfängerhügel des zentralen Schizophreniemassivs. So wie bei der Psychopathie lässt sich die »Störung« in niedrigen oder mittleren Höhen kontrollieren. In manchen Zusammenhängen ist sie sogar vorteilhaft (die Verbindung zwischen Schizotypie und Kreativität ist bestens bekannt). Doch oberhalb der Schneegrenze werden die Bedingungen immer gefährlicher.
Eine solche Herangehensweise an das Rätsel psychischer Störungen hat etwas Intuitives und Gesundes. Denn die quälende Vermutung, dass wir alle ein bisschen verrückt sind, lässt sich nur schwer ignorieren. Wenn es jedoch um die Psychopathiegeht und darum, dass sie auf einem Spektrum angelegt ist und dimensional betrachtet werden sollte, ist sicher nicht alles nach Scott Lilienfelds Willen gegangen. Da gibt es diejenigen, die Einwände gegen seine Gleitskala-Lösung erheben, und mit ihren eigenen Beweisen aufwarten. Tonangebend unter ihnen ist ein Mann namens Joseph Newman.
Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß
Joe Newman ist Professor für Psychologie an der University of Wisconsin, Madison, und eine Stunde in seinem Büro zu verbringen ist so, als säße man in einem psychologischen Windkanal – wie Wildwasserrafting durch die Stromschnellen der Kognitionswissenschaft. In den letzten dreißig Jahren hat Newman die meiste Zeit in einigen der härtesten Gefängnissen im Mittelwesten verbracht. Natürlich nicht als Insasse, sondern als einer der weltweit unerschrockensten Forscher, der mit Psychopathen hoch über der Schneegrenze der Dysfunktion arbeitet. Obwohl er sich schon lange an die rauen, gnadenlosen Bedingungen gewöhnt hat, gibt es selbst
jetzt
noch Zeiten, in denen es, so Newman, ein bisschen haarig wird.
Er erinnert sich z. B. an einen ein paar Jahre zurückliegenden Vorfall mit einem Typen, der bei der PCL-R 40 Punkte erzielte. Die maximale Punktzahl also. Er war ein »echter« Psychopath.
»Während des Interviews gibt es normalerweise einen Punkt, an dem wir die Leute gern ein bisschen aus der Reserve locken«, erzählt Newman mir. »Sie herausfordern. Ihre Reaktion beurteilen. Doch als wir das mit diesem Typen taten – und bis dahin war er ein wirklich netter Kerl: charmant, lustig, großes Selbstbewusstsein –, hatte er mit einem Mal diesen kalten, schwer zu beschreibenden Blick, den man aber kennt, wenn man ihn sieht, und der einfach zu sagen scheint: ›Verschwinde!‹ Und wissen Sie was? Wir sind verschwunden! Er hat uns einfach
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