Psychopathen
mit denen er zusammenwohnte. Seine längste Beziehung dauerte sechs Monate und wie üblich gab es heftige Streite. Immer war es Ian, der bei seiner Partnerin einzog, und nicht umgekehrt. Und jedes Mal »eroberte er ihr Herz im Sturm«. Affären waren an der Tagesordnung. Tatsächlich kann Ian sich kaum an eine Zeit erinnern, in der er nicht »mehr als eine Mieze« hatte, wie er sagt – obwohl er behauptet, nie untreu gewesen zu sein. »Meistens kam ich abends zu ihr zurück«, sagt er. »Was wollen sie mehr, die Weiber?«
Bei seinem Prozess waren die Beweise gegen Ian eindeutig.Dennoch plädierte er auf nicht schuldig und behauptet bis heute, dass er unschuldig ist. Während der Verlesung des Urteils lächelte er in Richtung der Familie des Opfers, und er zeigte dem Richter den Stinkefinger, als er von der Anklagebank weggeführt wurde.
Seit Ian im Gefängnis ist, hat er zweimal Berufung gegen sein Strafmaß eingelegt. Trotz wiederholter gegenteiliger Beteuerungen seines Anwalts ist er fest davon überzeugt, dass sein Fall wieder aufgerollt und das Urteil aufgehoben werden wird.
Der Sekt ist schon kalt gestellt, sagt er.
Stellen Sie sich also vor, Sie seien der Kliniker, und Ian und Jimmy wären Zellengenossen. Die beiden sitzen im Gang und warten auf die Sprechstunde. Glauben Sie, dass Sie erkennen könnten, wer von den beiden der Psychopath ist? Oberflächlich betrachtet könnte das schwierig sein. Aber lassen Sie uns noch einmal die Kriterien für eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung betrachten. Beide haben Probleme, sich an soziale Normen anzupassen. Und beiden fällt es schwer, ihr Verhalten zu kontrollieren – sie neigen zu Impulsivität, Aggressivität und Unverantwortlichkeit. Eine eindeutige Diagnose, würde ich sagen.
Lassen Sie uns nun jedoch die psychopathische Geschichte untersuchen. Das Bedürfnis nach Stimulierung und ein parasitärer Lebensstil? Wohl eher typisch für Ian als für Jimmy. Doch tatsächlich sind die Gefühle oder genauer gesagt die fehlenden Gefühle der Punkt, an dem Ians »Maske der Normalität« zu fallen beginnt. Charmant, grandios, manipulativ, mit einem Mangel an Empathie und Schuldgefühlen: Ian ist
so
gut in Psychopathie, dass man fast denken könnte, er habe geübt. Oder gerade vor Kurzem seinen Abschuss an einer geheimen Psychopathen-Schule gemacht.
Mit Auszeichnung.
Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung ist Psychopathie mit Emotionen. Psychopathie hingegen ist charakterisiert durch völlige Emotionslosigkeit.
Ein kriminelles Versäumnis
Wie kommt es, dass die Psychopathie den Anforderungen der Hüter des
DSM
nicht genügt und keinen Eingang in dieses Manual gefunden hat? Für diesen seltsamen und bemerkenswerten Ausschluss wird als häufigster Grund eine empirische Widerspenstigkeit angeführt – das und die angebliche Synonymie mit der Antisozialen Persönlichkeitsstörung. Schuldgefühle, Reue und Empathie lassen sich vielleicht nicht sonderlich gut quantifizieren. Also hält man sich am besten an beobachtbares Verhalten, damit nicht das Gespenst der Subjektivität seine Fratze zeigt.
Das ist, gelinde gesagt, in mehrerlei Hinsicht problematisch. Zunächst einmal zeigen Studien, dass die Konkordanzraten unter Klinikern ziemlich hoch sind, wenn es um die PCL-R geht. 45 Mit dieser Checkliste werden gute »Urteilerübereinstimmungen« erzielt. Und außerdem kann man, wie ein erfahrener Psychiater mir sagte, »einen verdammten Psychopathen schon wenige Sekunden, nachdem er zur Tür hereingekommen ist, riechen«.
Aber das ist nicht der einzige Punkt. Das Rätsel der Identität des Psychopathen, die Frage, was genau sich hinter der Maske der Normalität verbirgt, wird noch verworrener durch die Feststellung: Nicht alle Psychopathen befinden sich hinter Gittern. Die Mehrheit trifft man, wie sich herausstellt, am Arbeitsplatz an. Und einige von ihnen machen ihre Sache sehr ordentlich. Diese sogenannten »erfolgreichen« Psychopathen – wie die, mit denen sich Scott Lilienfeld befasst – stellen ein Problem für die Antisoziale Persönlichkeitsstörung und übrigens auch für die Verfechter der PCL-R dar. Im Rahmen einer kürzlich von Stephanie Mullins-Sweatt an der Oklahoma State University geleiteten Studie gab man Anwälten und klinischen Psychologen eine prototypische Beschreibung eines Psychopathen. 46 Nachdem sie das Profil gelesen hatten, wurden die beiden Gruppen auf den Prüfstand gestellt. Waren sie in der Lage, sich jemanden,den sie gekannt hatten
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