Psychopathen
Rickson passierte: Er stürzte als unrühmlicher Flammenball in die weißen Klippen von Dover.
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Die Furchtlosigkeit und der laserartige Fokus des Psychopathen wurden traditionell Defiziten in der emotionalen Verarbeitung zugeschrieben, genauer einer Fehlfunktion der Amygdala. Bis vor Kurzem hat dies die Forscher zu dem Glauben verleitet, Psychopathen würden nicht nur keine Angst, sondern auch keine Empathie empfinden. Die Ergebnisse einer Studie aus dem Jahr 2008, die Shirley Fecteau und ihre Kollegen vom Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston durchführten, zeugen jedoch von etwas ganz anderem: Psychopathen haben nicht nur die Fähigkeit, Gefühle zu erkennen – sie sind auch besser darin als wir.
Fecteau und ihre Mitarbeiter stimulierten mithilfe von TMS den somatosensorischen Kortex (den Teil des Gehirns, der körperliche Empfindungen verarbeitet und reguliert) im Gehirn von Probanden, die eine hohe Punktzahl beim PPI erzielt hatten. 88 Frühere Studien hatten Folgendes gezeigt: Beobachtet man, dass jemand anderem etwas Schmerzliches passiert, führt dies zu einer vorübergehenden Hemmung der neuronalen Erregung als Reaktion auf TMS, und zwar in eben der Region des somatosensorischen Kortex, die dem durch den Schmerz betroffenen Bereich entspricht: der Arbeit hoch spezialisierter und treffend als Spiegelneuronen benannter Hirnstrukturen. 89 Wenn Psychopathen die Fähigkeit fehlte, mit anderen mitzufühlen, dann sollte, wie Fecteau vermutete, bei Individuen, die beim PPI eine hohe Punktzahl erreicht hatten, die Hemmung der neuronalen Reaktion geringer ausfallen als bei Individuen mit einer geringen Punktzahl beim PPI – so wie die Psychopathen sich vielleicht auch im Vergleich mit den meisten normalen Mitgliedern der Gesellschaft weniger durch Gähnen anstecken lassen. [28] 90
Auf Fecteau und ihr Team wartete jedoch eine ziemliche Überraschung. Zu ihrer großen Verwunderung geschah genau das Gegenteil von dem, was sie erwartet hatten. Probanden mit hohen Punktzahlen beim PPI – vor allem diejenigen, die hohe Punktzahlen auf der Subskala »Kaltherzigkeit« erzielt hatten, eben jener Subskala, die am direktesten mit Empathie zu tun hat – zeigten eine stärkere Verzögerung der TMS-Reaktion als Probanden mit niedrigen Punktzahlen. Das lässt darauf schließen, dass Psychopathen keineswegs in ihrer Fähigkeit beeinträchtigt sind, die Gefühle anderer zu erkennen, sondern sogar ein Talent dafür haben, und dass das Problem nichts mit der Emotionserkennung an sich zu tun hat, sondern mit der Trennung zwischen deren sensorischer und affektiver Komponente: zwischen dem Wissen, was ein Gefühl
ist
, und dem Spüren, wie es sich
anfühlt.
Die Psychologin Abigail Baird hat etwas Ähnliches entdeckt. Bei einer Emotionserkennungsaufgabe zeigten die fMRT-Scans, dass bei Probanden mit einer hohen Punktzahl beim PPI im Vergleich mit Probanden mit einer niedrigen Punktzahlnicht nur die Amygdala-Aktivität reduziert war, wenn sie bei Gesichtern mit ähnlichem emotionalem Ausdruck die zugehörigen Gefühle benennen sollten (übereinstimmend mit einem Defizit in der emotionalen Verarbeitung) – sie zeigten auch eine erhöhte Aktivität im visuellen und im dorsolateralen präfrontalen Kortex, was laut Baird und ihrem Team darauf hinweist, dass »sich Probanden mit einer hohen Punktzahl bei der Bewältigung von Emotionserkennungsaufgaben auf Bereiche stützen, die mit Wahrnehmung und Kognition assoziiert werden«. 91
Einer der Psychopathen, mit denen ich sprach, formulierte es so: »Selbst der Farbenblinde weiß, wann er an einer Ampel stehen bleiben muss. Sie wären überrascht. Ich habe verborgene Qualitäten.«
Oder wie Homer Simpson uns zu Beginn dieses Kapitels erinnerte: dass einem etwas egal ist, heißt noch lange nicht, dass man es nicht versteht.
Die größere Fähigkeit des Psychopathen, die Gefühle anderer Menschen zu erkennen, könnte so wie seine größere Fähigkeit, Gefühle vorzutäuschen, eine Erklärung für seine hervorragenden Überredungs- und Manipulationskünste sein. Doch die Fähigkeit, »kalte« sensorische Empathie von »warmer« emotionaler Empathie abzukoppeln, hat noch andere Vorteile – vor allem in Arenen, in denen wie im medizinischen Bereich ein gewisser Grad an affektiver Distanziertheit erhalten bleiben muss.
Wie er sich kurz vor Betreten des Operationssaals fühlt, beschreibt einer der britischen Top-Chirurgen so: »Werde ich vor einer großen Operation nervös?
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