Psychopathen
Bewegung des kleinen Fingers an deiner rechten Hand verantwortlich ist. Sobald wir den lokalisiert haben, kann ich ihn als eine Art Basislager nutzen, wenn du so willst, von dem aus die Koordinaten der Gehirnregionen festgelegt werden können, an denen wir eigentlich interessiert sind. Deine Amygdala und den für die moralische Entscheidungsfindung verantwortlichen Bereich.«
»Na, dann beeil dich aber, verdammt noch mal«, murmele ich. »Denn wenn das hier noch lange so weitergeht, werde ich dich erwürgen.«
Nick lächelt.
»Verdammt«, sagt er. »Es scheint schon zu funktionieren.«
Tatsächlich spüre ich kaum zwanzig Sekunden später, so wie Nick es vorhergesagt hat, ein unfreiwilliges Zucken im kleinen Finger. Zuerst ganz schwach. Dann immer stärker. Schon baldspielt mein rechter kleiner Finger verrückt. Es ist das unangenehmste Gefühl, das man sich vorstellen kann – an einen Stuhl festgebunden in einem schwach beleuchteten Raum zu sitzen und zu wissen, dass man keine Kontrolle über seinen Körper hat. Es ist unheimlich. Erniedrigend. Verwirrend ... und stellt irgendwie die Sache mit dem freien Willen infrage. Ich hoffe nur, dass Nick nicht in der Stimmung ist, irgendeinen Scheiß zu machen. So wie er mit seinem Zauberstab herumwedelt, könnte er mich im Labor Radschlagen lassen.
»Okay«, sagt er. »Wir wissen jetzt, wo sich unsere Zielbereiche befinden. Also lass uns anfangen.«
Mein kleiner Finger hört auf, sich zu bewegen, als Nick seinen gespenstischen neurologischen Zauberstab im Kraftfeld über meinem Kopf neu ausrichtet. Eine Weile lang sitze ich dann einfach nur da, während mein dorsolateraler präfrontaler Kortex und die rechte temporoparietale Übergangsregion bearbeitet werden. Die TMS kann nicht weit genug ins Gehirn eindringen, um auf direktem Weg die Regionen zu erreichen, die für die Gefühle und die moralische Entscheidungsfindung verantwortlich sind. Doch indem sie für eine Dämpfung oder Aktivierung der Bereiche der Großhirnrinde sorgt, die mit diesen Regionen verbunden sind, kann sie die Wirkungen eines tiefgreifenderen Einflusses simulieren.
Es dauert nicht lange, bis ich eine Veränderung bemerke: einen schwer fassbaren, doch existenziellen Unterschied. Vor dem Experiment war ich neugierig gewesen, wie lange es wohl dauern würde, bis ich den Rausch spürte. Jetzt kannte ich die Antwort: etwa zehn bis 15 Minuten. Genauso viel Zeit, schätze ich, wie die meisten Menschen brauchen, um einen Schwips von einem Bier oder einem Glas Wein zu bekommen.
Die Wirkungen sind nicht ganz unähnlich. Eine unbekümmerte Zuversicht. Eine transzendentale Lockerung der Hemmungen. Die ersten Anzeichen einer subjektiven moralischen Arroganz. Die Erkenntnis, dass es, verdammt noch mal, ja doch keinen kümmert.
Es gibt jedoch eine bemerkenswerte Ausnahme. Einen offenkundigen und unverkennbaren Unterschied zwischen dem hier und den Wirkungen von Alkohol. Das Fehlen von Trägheit. Die Aufrechterhaltung – und ich würde sogar sagen, die Verstärkung – der Schärfe der Aufmerksamkeit. Ein Gefühl erhöhter, verbesserter Aufmerksamkeit. Mein Gewissen fühlt sich eindeutig so an, als habe man es mit moralischem Rohypnol geimpft; und meine Ängste scheinen mit einem halben Dutzend transkranieller magnetischer Jack Daniels ertränkt worden zu sein. Gleichzeitig fühlt es sich jedoch so an, als sei bei mir ein aufwändiger Frühjahrsputz vorgenommen worden, sodass alles viel heller und klarer erscheint. Als habe man meine Seele, oder wie immer man es nennen will, in einen spirituellen Geschirrspüler gesteckt. So also fühlt es sich an, ein Psychopath zu sein, denke ich. Durch Gary Gilmores Augen zu sehen. Durchs Leben zu gehen in dem Wissen, dass dich Schuld, Reue, Scham, Mitleid oder Angst – all diese vertrauten, alltäglichen Warnsignale, die normalerweise auf deinem psychologischen Armaturenbrett aufleuchten – nicht länger beunruhigen, egal, was du auch sagen oder tun magst.
Plötzlich habe ich einen Geistesblitz. Wir reden über Geschlecht. Wir reden über Schicht. Wir reden über Hautfarbe. Und Intelligenz. Und Glaube. Doch der grundlegendste Unterschied zwischen zwei Individuen ist sicherlich das Vorhandensein oder das Fehlen eines Gewissens. Das Gewissen ist es, das dich plagt, wenn sich alles andere gut anfühlt. Doch was ist, wenn es stahlhart ist? Was, wenn seine Schmerzgrenze jenseits von Gut und Böse liegt und es nicht mit der Wimper zuckt, wenn andere vor Qualen schreien?
Und
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