Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Psychotherapeuten im Visier

Psychotherapeuten im Visier

Titel: Psychotherapeuten im Visier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Reiners
Vom Netzwerk:
Auch der Berufsalltag prägt uns, den Buchhalter ebenso wie den Manager, den Slow-Food-begeisterten Biobauern und den profitfixierten Hühnerbaron. Das gilt natürlich auch für Therapeuten, vor allem, wenn sie niedergelassen sind. Ihr Arbeitsalltag ist davon bestimmt, dass der starke Therapeut dem schwachen Patienten gegenübersitzt – oder dieser gar auf der Couch liegen muss. Das Setting ist eindeutig und immer wieder gleich. Da kommt es fast zwangsläufig zu einem Überlegenheitsgefühl, weshalb man noch vor gar nicht langer Zeit von Ärzten in den Kliniken als den »Göttern in Weiß« sprach. Dort sind die Zeiten dieser Form der Selbstdarstellung vorbei, nicht aber bei den vielen, vielen Therapeuten, die auch weiterhin
ihre gesellschaftliche Sonderrolle pflegen: die Arroganz der Distanz und den Zynismus der Überlegenheit.
    Patienten sprechen immer wieder davon, dass sie sich in der Begegnung mit einem Therapeuten so unsäglich klein vorgekommen seien, als hätten sie es mit Sadisten zu tun gehabt. Das sind harte Worte, aber leider treffen sie häufig zu. Therapie bedeutet nicht nur Hilfe zur Selbsthilfe mit verbundenen Augen, sondern vor allem Beistand, Unterstützung, Hoffnung und auch das Aufzeigen von Perspektiven im Sinne eines Ratschlags oder sogar eines empfohlenen Programms. Jedwede positive Forderung in einer therapeutischen Lebensbegleitung auf Zeit bedeutet das Signal »Mir wird etwas abgefordert und damit zugetraut – hier setzt jemand auf mich, also kann auch ich wieder Hoffnung haben und an mich selbst glauben«. Einmaliges therapeutisches Handauflegen pro Woche kann das nicht leisten. Warum wohl ziehen sich viele Therapien, vor allem die Psychoanalyse, über Jahre hin?
    Es bedarf eines radikalen Umdenkens im Umgang mit Menschen, die unter seelischen Krankheiten leiden. Wir müssen sie endlich ernst nehmen, ihnen ärztliche Aufmerksamkeit widmen und seelische Erkrankungen ebenso gleichrangig behandeln wie somatische. Wohin die unterschiedliche Gewichtung geführt hat, lehrt uns die Vergangenheit zwischen 1933 und 1945, die über 70.000 Menschen mit seelischen Erkrankungen und Behinderungen das Leben gekostet hat – ausschlaggebend war in den meisten Fällen das Urteil von Ärzten und Psychiatern.
    Gute, engagierte Therapeuten brauchen wir, und das schnell. Sie bedürfen unserer Wertschätzung und Unterstützung – das gilt ebenso für die Honorarordnung, die therapeutisches Arbeiten auch weiterhin benachteiligt. Wir dürfen das
als Gesellschaft nicht länger zulassen. Das Thema seelische Erkrankung vor allem politisch zu verdrängen bedeutet, Millionen kranke Menschen auszugrenzen und sie ihrem Leid zu überlassen. Über 11.000 Selbsttötungen aus seelischer Verzweiflung pro Jahr klagen an – jeden Tag.
    Wann endlich stellt sich die Therapeutenschaft der Verantwortung ? Es ist hohe Zeit! Irgendwann schlägt das Pendel zurück – in Überdruss. Die Anerkennung des Therapeuten, seine Unverzichtbarkeit muss sich allein im positiven Urteil der Patienten und der Erfolgsquote in der Behandlung zeigen. Alles andere machen sie in ihrem habituellen Selbstverständnis schon gegenseitig. Damit aber ist niemandem gedient, am wenigsten den anvertrauten Patienten.
    Wir brauchen keine weiteren nichtssagenden Reformversprechen im Verhältnis von Patient zu Therapeut, wir brauchen die Revolution von unten, von oben und von rechts und links, also auch vonseiten der Angehörigen. Die volkswirtschaftlichen Kosten für die Behandlung seelisch kranker Menschen sind schon heute besorgniserregend, sowohl für die Solidargemeinschaft der Versicherten als auch für Unternehmen und den Staatshaushalt. Aussitzen lässt sich das Thema nicht, auf keiner der beteiligten Seiten.
    Wir transplantieren Herzen, Nieren, Lungen und Haut – alles, was medizintechnisch möglich ist, wird unternommen. Die Seele eines Menschen dagegen lässt sich nicht transplantieren, aber sie ist dieselbe Aufmerksamkeit wie jede andere schwere körperliche Erkrankung wert. Wenn die Gesellschaft dieses Bekenntnis entschlossen einfordert, kann unendlich viel seelisches Leid vermieden, Schmerzen gelindert werden und Selbsttötungen aus depressivem Impuls würden stark zurückgehen – zu vermeiden werden sie wohl nie sein.
    Wir tun auch alles, um Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang
durch das Optimieren von Sicherheitseinrichtungen bei Autos zu reduzieren. Die Erfolge sind überwältigend. Also: Während tödliche Verkehrsunfälle stetig

Weitere Kostenlose Bücher