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Psychotherapeuten im Visier

Psychotherapeuten im Visier

Titel: Psychotherapeuten im Visier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Reiners
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Bedenken in kirchliche Aufbewahrungsanstalten verlegt. Die Psychiater bevorzugten die frisch Erkrankten und therapierbaren Fälle. Bei aller Professionalisierung blieben Heilungschancen indes begrenzt: »Gemessen an den Erfolgen der zeitgenössischen Körpermedizin«, konstatiert die Autorin nüchtern, »hatte die Psychiatrie nicht viel zu bieten.«
    Über das dunkle, ja entsetzliche Kapitel deutscher Psychiatriegeschichte soll hier nicht berichtet werden, nur so viel, dass nach Aussage der Autorin Brink die alten Strukturen der Anstaltspsychiatrie – und damit natürlich deren menschenverachtender Geist – auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst wieder aufgenommen wurden. Das war in der Politik nicht anders und auch in der Bundeswehr, als die Wiederbewaffnung Deutschlands 1955 erfolgte, schien es notwendig, ehemalige Offiziere der Wehrmacht ohne größere Prüfung ihrer Vergangenheit wieder einzustellen, ebenso geschah dies in der Justiz und an den Universitäten in nahezu allen Fachgebieten, aber natürlich auch in der Wirtschaft. Dieser nie wirklich vollzogene Bruch mit dem Schreckensregime der Nationalsozialisten wirkt bis heute nach: Das Festhalten
an starren Hierarchien vor allem in den medizinischen Fakultäten – einschließlich Psychiatrie –, einem verqueren Autoritätsverständnis und – als ein Beispiel – einer fachinternen Bewertung wissenschaftlicher Leistungen, die sich eher an Masse denn an Qualität orientiert. Was sagt es schon aus, wenn ein junger Mediziner 200 Publikationen vorzuweisen hat, aber so gut wie keine klinische Erfahrung im Umgang mit Patienten? Und müssen wir wirklich noch Hochachtung haben vor Chefärzten, die nur jemanden in der eigenen Abteilung in leitender Funktion dulden, der die sogenannte Ochsentour absolviert hat, also die Habilitation? Sollen das wirklich die besseren Ärzte sein? In der Psychiatrie jedenfalls sind sie es nicht. Ich muss den Skurrilitäten, die ich mit solchen Chefärzten erlebt und an anderer Stelle schon beschrieben habe, keine weiteren hinzufügen. Gerade in jüngster Zeit haben sich wieder einige dieser selbstverliebten Koryphäen diskreditiert, indem sie sich zu abenteuerlichen Diagnosen, schnellen Behandlungserfolgen und krausen Kausalitäten zur Entstehung der Depression geäußert haben. Das Stichwort Fußballstars mag genügen.
    Muss man ihnen all das so streng vorwerfen? Ja, weil es auch nur durch eine öffentliche Psychiatriekritik in den 60er-und 70er-Jahren, ausgelöst durch ein ganz neues, wirklich empathisches Psychiatriekonzept in Italien, endlich zu grundlegenden Veränderungen in der klinischen Behandlung von schwer depressiven und anderen seelisch Kranken in unserem Land kam. Nur: Der klinische Alltag in der Psychiatrie ist nicht der Patienten- und Therapeutenalltag in der niedergelassenen Praxis. Im Klinikbetrieb fallen Schrulligkeiten und menschliche Inkompetenz auf, es kann gegengesteuert werden, soweit es die Klinikleitung zulässt. In der Praxis dagegen ändert sich im Verständnis der eigenen Arbeit
bis heute nur wenig. Warum auch? Die Nachfrage nach therapeutischer Zuwendung ist erheblich größer als das Angebot und die Therapeuten arbeiten in einem absolut unkontrollierten Raum, man könnte ihn das Schlaraffenland der Selbstverwirklichung nennen, wogegen ich prinzipiell gar nichts habe – nur bitte nicht im Umgang mit kranken Menschen. Künstler leben so und ich bewundere ihre kreative Kraft als Einzelkämpfer, ihre Disziplin und natürlich ihr Werk, das sie sich in der Konfrontation mit sich selbst und dem Motiv abringen – und wie oft ohne jeden finanziellen Erfolg. Künstler dürfen egoman sein in ihrem Wunsch nach absoluter Abgeschiedenheit von der Welt, sie müssen sogar so sein – zumindest in der jeweiligen Schaffensperiode –, weil sie sich sonst verzetteln würden. Tizian, der Malerfürst der Renaissance, hat sich immer dann, wenn er der absoluten, selbstbestimmten Ruhe bedurfte, um zu arbeiten, seinen Auftraggebern entzogen, indem er ihnen mitteilen ließ, er sei in seiner Stimmung so gedrückt, dass er derzeit überhaupt nicht an die Vollendung des angefragten Werkes denken könne. Heute würde man sagen, er hatte sehr überzeugend vorgetäuscht, dass er depressiv sei – und wann sich das ändern würde, sei nicht abzusehen, ließ er stets verlauten. An einem derartigen Szenario hat sich – auch nach 500 Jahren – nichts geändert. Allerdings ist es heute sehr viel schwieriger, seinen wirklichen

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