Psychotherapeuten im Visier
abnehmen, steigt dagegen die Zahl der Selbsttötungen an – die ungeklärten Fälle gar nicht mitgerechnet. Und wir nehmen es klaglos hin.
Ob eine sich permanent verändernde und beschleunigende Arbeits- und Alltagswelt die Ursachen sind oder aber ein zunehmender Mut der Betroffenen dazu führt, therapeutische Hilfe zu suchen, ist für mich unbedeutend. Was zählt, ist allein der seelisch Leidende, ihm muss die ärztlich-therapeutische Fürsorge gelten. Weichherzige Erklärungsversuche und vermeintliche Gutachten und die stets gleichlautenden Beschwichtigungsargumente der Politik helfen nicht weiter. Das Verständnis von Therapie seelischer Erkrankungen kann nicht länger der alleinigen Deutungshoheit der Psychiater und Psychologen überlassen bleiben. Wir brauchen als Kontrollinstanz eine Selbstverpflichtung der Therapeutenschaft zu Verantwortung, Qualität und Kontrolle. So wie ein Lkw nicht mit defekten Bremsen und mit abgefahren Reifen durch Europa fahren darf und jederzeit mit Kontrollen rechnen muss, so sollte das umgehend auch für die längst abgefahrenen Profile therapeutischer Traditionen und Praktiken gelten. Um das zu erreichen, bedarf es eines beherzten Bündnisses zwischen Patienten, Angehörigen und Krankenkassen. Nur dann wird sich etwas zugunsten der seelisch kranken Patienten ändern lassen – zum Vorteil von uns allen. Die Zeit drängt, oder wie Primo Levi eines seiner wunderbaren Bücher betitelt hat: Wann, wenn nicht jetzt?
Primo Levi starb am 11. April 1987. Er stürzte im Treppenaufgang seines Hauses in Turin aus dem vierten Stock in den Tod. Ob es ein Unfall war, blieb ungeklärt. Sicher überliefert aber ist, dass Primo Levi stark unter Depressionen litt.
Suggestion: Eine gefährliche Kraft
Was ist so schlimm daran, wenn ich einem Menschen versuche zu suggerieren, dass er auf einem bestimmten Gebiet ganz offensichtlich besondere Fähigkeiten hat, auch wenn ich dabei ein wenig übertreibe? Wir verbinden im Wortverständnis der Suggestion zuerst einmal etwas Negatives, nämlich »die Beeinflussung des Denkens, Wollens, Fühlens und Handelns eines Menschen unter bewusster Umgehung seiner kritisch wertenden und kontrollierenden Persönlichkeitsanteile« – so die Definition der Brockhaus-Enzyklopädie von 1963. Hier wird die Suggestion als vorsätzlicher Missbrauch eines Schwächeren und man kann auch sagen eines Labilen verstanden, der sich seines Urteils nicht sicher ist, weil er zwischen Manipulation und Realität nicht mehr sauber unterscheiden kann. Mir scheint dieser einseitige Bedeutungsgehalt der Suggestion so nicht haltbar zu sein, weil er die Bandbreite zwischen positiven und negativen Effekten außer Acht lässt und auch nicht auf das Gefahrenpotenzial einer schleichenden Suggestion verweist, die, wenn sie im
Kindesalter beginnt und zum ersten Mal in ihrer Konsequenz ahnend in der Pubertät wahrgenommen wird, ihre Wirkung unter Umständen ein ganzes Leben anhält, ohne dass sich das Opfer dagegen meint wehren zu können. Suggestion wirkt – und das macht sie so gefährlich – auch über den Tod dessen hinaus, der das Instrumentarium der Suggestion eingesetzt hat, ob absichtsvoll, unachtsam oder aber als ganz subtile Botschaft, für Dritte nicht wahrnehmbar, aber für den Betroffenen in der Wirkung umso stärker, also eine als allein vom Opfer wahrgenommene und dann selbst überinterpretierte Suggestion.
Der Verweis auf die Gefahren der Suggestion in der Kindheit wird mich nicht verleiten, auf psychoanalytische oder gesprächstherapeutische Behandlungsansätze einzugehen, die sich häufig in epischer Breite diesem Aspekt widmen. Es geht mir allein darum, was Patienten, die einem suggestiven Behandlungsverständnis ausgesetzt sind, erleben und wie sie im Nachhinein, wenn die depressive Phase überwunden ist, über gerade diese Tortour als verlorene Lebenszeit berichten.
Wir wissen noch immer nicht, wie die Depression entsteht, welches die Auslösemechanismen sind. Fest steht allerdings, dass das seelische Immunsystem in der Depression stark geschwächt ist und der Kranke sehr anfällig ist für vielerlei Infektionen seines kranken Seelengefüges und seines Lebenselans. Was gestern noch selbstverständlicher Tagesablauf war, kann in der Depression plötzlich oder schleichend zur unerträglichen Belastung werden, was bisher leicht von der Hand ging, bedeutet jetzt allergrößte Anstrengung und ein dünnes Blatt Papier wird schwergewichtig, im Wortsinne ebenso wie in der Symbolik
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