Psychotherapeuten im Visier
– alles fällt schwer, ist mühevoll und scheint dabei als Aktion so sinnlos. In dieser Phase der
Begegnung mit der Depression ist der Kranke der vollen Wucht der Suggestion ausgesetzt, besonders dann, wenn er schon immer das Gefühl hatte, in seinem Leben gewissen Erwartungen folgen zu sollen. Jeder Mensch unterliegt dem Einfluss solcher Muster von den ersten Lebenstagen bis zur eigentlichen Ich-Erfahrung in der Pubertät. Das nennen wir Erziehung, und wenn ebendiese Erziehung irgendwann als diffus suggestiv erlebt wird – ich könnte es auch aufgezwungen nennen –, dann scheint das seelische Immunsystem angegriffen zu werden. Ich möchte diese Lebenssituation mit der Erfahrung vergleichen, plötzlich mit einer Erbkrankheit konfrontiert zu sein, also einem Geschehen, für das niemand Verantwortung trägt, weil es schicksalhaft ist. Folgt man diesem Gedanken, dann wird deutlich, dass die Depression ein Krankheitsgeschehen ist wie jedes andere schwerwiegende auch, also nicht Folge übermäßiger Sensibilität, Nervenschwäche, Disziplinlosigkeit oder gar psychischer Labilität ist. Mit dieser Einschätzung möchte ich all denen entgegentreten, die meinen, die Depression als zu vernachlässigende Befindlichkeitsstörung abtun zu dürfen, die nichts anderes ist als eine schlechte Laune, die schließlich jeder kennt. Nein, das genau ist die Depression nicht. Aber sie ist – bis keine andere Kausalität gefunden wurde – offenbar eine Laune der Natur, und das macht die Einschätzung so schwierig, auch komplexe Bezüge in der Kausalität zuzulassen.
Wenn nun das seelische Immunsystem geschwächt ist – in welchem Lebensalter auch immer –, dann ist das Schwungrad des Lebens defekt, es läuft unrund, ungenau, unzuverlässig oder es fällt ganz aus. So wie ein krankes Herz. Würden wir da zögern, eine sofortige Notfallbehandlung einzuleiten – in welchem Lebensalter auch immer? Ja, so wie der Herzkranke einer fein dosierten Behandlung bedarf – Schonung
auf der einen und körperliche Anforderungen auf der anderen Seite –, so geht es auch dem Depressionskranken. Auch er bedarf der Forderung, aber unbedingt zu vermeiden ist, dass er in seinem Behandlungssetting genau der suggestiven Kraft ausgesetzt wird, die ein wesentlicher Teil seines Krankheitsproblems ist: der fehlenden Autosuggestion, also einem Ich-Vertrauen, einem gesunden Lebenselan und einem unbedingten Lebenswillen. Die Depression hat diese wichtigen Lebensadern der seelischen Blutversorgung verschlossen und wie dem Herzkranken kann jetzt nur noch ein seelischer Bypass Linderung schaffen und das Überleben sichern.
Den langen Vorspann halte ich für wichtig, weil ich selbst solche Erfahrungen machen musste und von vielen Depressionskranken weiß, dass die Begegnung mit einem Therapeuten, sein räumliches Umfeld und vor allem das Gefühl einer nicht deutbaren Beobachtung als äußerst unangenehm empfunden wird – die Suggestion. Das Ich, das da dem Therapeuten gegenübersitzt, ist klein. Nicht allein krank, sondern klein. Und klein bedeutet in der Eigenwahrnehmung unterlegen, hilflos, verletzlich. Jeder, der einmal Patient war, kennt dieses Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber der Professionalität des Arztes und seiner ganz spezifischen, natürlich notwendigen apparativen Umgebung – wie in einer hoch technisierten Autowerkstatt, in der man als Kunde zuerst einmal beim Anblick an die Höhe der Rechnung denkt und weniger an das Wohlergehen des eigenen Autos. Die Reaktionsmuster sind nun einmal so. Vor allem in einer persönlichen Situation, in der einem klar ist, dass man sie weder übersehen noch beherrschen oder zumindest beeinflussen kann.
Natürlich ist jede Psychotherapie eine harte Prüfung, so wie es jede Operation ist oder eine schwere internistische
Erkrankung. In diesen Fällen betrachten wir unseren Körper – wir haben es ja nie anders erlebt – als Apparat, der zwar hoch kompliziert funktioniert, aber doch das bisher immer schön verlässlich. Seelische Erkrankungen lassen sich in ihrer Dramatik weder auf dem Röntgenbild noch im CT darstellen – und genau dieses vermeintliche Defizit verleitet zu Fehlinterpretationen der Krankheit Depression. Auch bei Therapeuten. Mit dem Röntgenbild unter dem Arm bin ich als Patient in Bruchteilen von Sekunden einzuordnen. Die nachfolgenden Behandlungsschritte sind standardisiert und für den Patienten in der Wahrnehmung zuerst einmal verlässlich. Das Röntgenbild als Identitätsnachweis
Weitere Kostenlose Bücher