Psychotherapeuten im Visier
geben, aber dann säße er nicht hier in einer Psychotherapie, sondern würde irgendwo im realen Leben eine Rede halten oder in einem interessanten Zirkel lebhaft diskutieren.
Wenn der Patient sich also in der Therapie weitestgehend selbst überlassen bleibt, dann erfährt er im Gegenüber des Therapeuten genau die suggestive Kraft, gegen die er sich so
gern stemmen würde. Aber er prallt mit seinem Bemühen, sich zu wehren, immer wieder an der gespielt-betonierten Gefühllosigkeit des Therapeuten ab. Das ist kein Rollenspiel, sondern ein seelisches Spießrutenlaufen.
Ich kann nicht erkennen, wozu all das gut sein soll. Die Patienten erleben Therapeuten, die ein derartiges Selbstverständnis pflegen, als einschüchternd und nicht hilfreich. Nur haben sie nicht die Kraft zu sagen: Was soll der Unsinn, Sie sollen mir helfen und nicht mit mir spielen! Kraft, Elan und Lebensfreude sind aber genau die Sehnsüchte, die den Kranken umtreiben, wie gern würde er sie einfordern, wie gern würde er selbst über das notwendige Instrumentarium verfügen, der Depression die Stirn zu bieten – ja, und auch seinem Therapeuten.
Wer von seiner Depression genesen ist, wird ganz neue Prioritäten setzen – in vielen Bereichen seines Lebens. Er wird seine berufliche Situation überdenken, das Verhältnis zu Freunden und zur Familie und häufig auch die privaten Ziele neu abstecken. Er wird sich vor allem gegen die als so leidvoll empfundene Suggestion wehren. Er wird sich fragen: Was war in meinen bisherigen Lebensmustern richtig, was pflege ich weiter und von welchen gerade noch gültigen Regeln verabschiede ich mich?
Wer sein bisheriges Leben als von Suggestionen und Erwartungen geprägt empfunden hat, wird sich nach Überwinden der Depression frei und autonom fühlen. Wichtig bleibt die Feststellung, dass eine als suggestiv geprägte Lebenszeit nicht allein der Grund für das Auftreten einer Depression sein muss. Aber in der seelisch geschwächten Immunsituation wird manchmal deutlich, an welchen Lebensscheidewegen man sich vielleicht zu vorsichtig verhalten hat, weil die Einschätzung der eigenen Ich-Stärke noch getrübt war. Suggestion
ist also nicht Ursache des Krankheitsgeschehens, sondern ein oft nicht wahrgenommenes Signal, eine Botschaft, die nicht entschlüsselt wurde. Tritt dann eine seelische Erkrankung ein, die alle Grundfesten des Daseins erfasst, zeigt sich erst, ob man der Falle Suggestion erlegen war.
Es gibt Menschen, die sich in ihrer Rolle uneingeschränkt wohlfühlen, die nie von einer Depression heimgesucht werden, nicht weil sie vermeintlich so stark sind, sondern weil sie einfach Glück haben.
Die persönliche Erfahrung, Teil eines durch Suggestion geprägten Lebensumfeldes zu sein, ist der erste Schritt in eine wirkliche Lebensautonomie. Die Frage, wie weit wir uns als Gesellschaft von den verführerischen Suggestionen des Alltags, den Wertvorstellungen und den uns nahegelegten Träumen distanzieren können, bleibt abzuwarten. Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass seelischer Kollaps nicht allein ein schicksalhaftes Geschehen ist, sondern ein zweites Gesicht zeigt: einer als allgegenwärtig empfundenen Desorientierung, die nicht mehr nur individuell, sondern gesamtgesellschaftlich wahrgenommen wird. Nur lässt sich nicht eine ganze Gesellschaft therapieren, aber es lohnt sich sicher, auf einer persönlichen Ich-Stärke zu beharren, sich nicht mitreißen zu lassen von vermeintlichen Normen und Erwartungen. Glücklicherweise ist der Mensch kein Schwarmfisch, der zwangsläufig zur Beute von Erwartungen oder Opfer perfider Suggestion werden muss. Er kann sich wehren.
Daher greift auch der gedankliche Schluss nicht, Überforderung, von welcher Seite auch immer, führe zwangsläufig zu Burn-out und in Folge zur Depression. Dieses Kausalitätsverständnis ist unzulässig. In der Laienwahrnehmung bietet es sich zwar schlüssig an, es sind aber sehr viel komplexere Mechanismen als bisher angenommen und die Menschen
gehen ganz unterschiedlich damit um – der eine wird krank, der andere nicht, auch wenn die Ausgangsbedingungen nahezu gleich waren.
Das Immunsystem unserer Seele ist noch nicht annähernd auf seine Anfälligkeit hin erforscht. Jedes vorschnelle Urteil gegenüber dem Depressionskranken ist fahrlässig und in der Wirkung gefährlich. Meine Einschätzung ist, dass wir noch mit ganz großen Überraschungen über die Kausalität der Depression rechnen können. Daher wünsche ich mir, dass endlich
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