Psychotherapeuten im Visier
ausreichend Forschungsmittel bereitgestellt werden, um dieser Volkskrankheit mit Millionen von Betroffenen endlich auf die Spur zu kommen. Davon sind wir noch weit entfernt, aber die Zeit drängt, denn zu den vielen Kranken, die erwerbstätig sind und oft über Monate ausfallen, wird die Zahl der alten Menschen, die unter Depressionen leiden, rasant anwachsen. Ihnen allen muss unsere Fürsorge gelten – ohne Wenn und Aber.
Depression und das Recht auf Suizid
1976 erschien das viel beachtete Buch von Jean Améry »Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod«. Damals hatte ich eine schwere Zeit, die Depression war übermächtig, aber trotz aller Einschränkungen war ich begierig auf jedes Buch, das sich mit Depression, Tod und Suizid beschäftigte. Wenn es irgend möglich war, habe ich die mich interessierenden Bücher erworben – natürlich auch das von Jean Améry. Damals war ich noch in der Odyssee meiner verschiedenen Behandlungsversuche gefangen – Hausarzt, mehrere Psychiater, mehrere Psychologen, Kapazitäten in psychiatrischen Krankenhäusern ebenso wie Küchentischtherapeuten – und zu keinem einzigen konnte ich auch nur das geringste Vertrauen aufbauen, nach dem ich mich so gesehnt hatte.
Einen Diskurs, bescheidener: ein Gespräch über den Freitod hätte ich mir damals nicht zugetraut, aber nach einem ersten Suizidversuch im Alter von 18 Jahren mit angesammelten Barbituraten hätte ich zu gern mit jemandem über diese Erfahrung gesprochen: tot sein zu wollen. Aus dem
Leben gehen wollen, alles hinter mir lassen, nicht mehr leiden müssen. Aber es gab niemanden, den ich in diese Gedanken hätte einweihen können. Es ging ja nicht mehr um einen weiteren zu planenden Suizid, nein, es ging um die Erfahrung des Grenzbereiches zwischen leben und nicht mehr in der Welt sein wollen.
1976, als Amérys Buch erschien, gab es kein öffentliches Nachdenken über Selbsttötung, Freitod, Selbstmord oder Suizid, das Thema war tabu, und eigentlich ist es das bis heute und die entsprechende Wortwahl ist noch immer unpräzise und mit dem Begriff »Selbstmord« einfach entwürdigend. Nur ist die Debatte über ein selbstbestimmtes Sterben-wollen heute öffentlich, allerdings nur, wenn es um alte oder körperlich sehr kranke Menschen geht. Die Medien beschäftigen sich mit dem Thema Sterbehilfe, Kirchenvertreter, Mediziner und Philosophen beziehen ihre Standpunkte pro und kontra. Traurig macht mich bei dieser Debatte, ob sich der Mensch selbst töten darf, schon lange nicht mehr die Starrsinnigkeit im Argumentieren der einen oder der anderen Seite, auch nicht die Anmaßung religiöser Hardliner, die den Suizidenten auch weiterhin verurteilen, haben sie ihm doch über Jahrhunderte die Würde eines kirchlichen Begräbnisses verweigert, haben noch symbolisch den Leichnam gefoltert, selbst aber anmaßend in Zeiten der Inquisition mit leichter Hand über Leben und Tod entschieden. Und dieser anmaßende Geist beherrscht auch weiterhin den Umgang mit dem selbst gewählten Tod, den Tod von eigener Hand, denn einem Depressionskranken bleibt nur diese Wahl.
Todesanzeigen geben, wenn überhaupt, nur sehr versteckt einen Hinweis auf die Entscheidung des Verstorbenen, über den Zeitpunkt seines Todes selbst bestimmt zu haben. Offen und vorurteilsfrei geht niemand im Kreis der betroffenen
Angehörigen, der Pastoren und der Hausärzte mit diesem noch immer heiklen Thema um, aber es werden jetzt – glücklicherweise! — endlich Fälle bekannt, dass Menschen, die aus freiem Willen ihrem Leben ein Ende gesetzt haben, dieses als Bekenntnis hinterlassen, um das Tabu aufzuweichen, das eigentlich jeden Menschen, der dem Alter begegnet, gedanklich beschäftigen müsste. Ebenso all diejenigen, die in jungen Jahren viel Leid erleben und nicht wagen, über den Sinn ihres Daseins in dieser von ihnen als feindlich empfundenen Welt laut nachzudenken. Das gilt auch für den seelisch Kranken, der in tiefster Depression gefangen, jeden Tag viele Male darüber nachdenkt, nicht mehr leben zu wollen. Und wie begierig ist er, diesen so brennenden Wunsch noch einmal mit jemandem gedanklich zu teilen, ehe dann die Entscheidung fallen soll. Das sich in einem Gegenüber Klar-werden-Wollen in der eigenen Argumentation für den geplanten Tod gleicht einem Duell im 19. Jahrhundert. Die Aufforderung zum Duellieren war im Rausch des eigenen Ehrverständnisses schnell dahingesagt, die Konvention wollte es so, aber die Konsequenz war der mögliche Tod durch die
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