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Psychotherapeuten im Visier

Psychotherapeuten im Visier

Titel: Psychotherapeuten im Visier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Reiners
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die ich mit erfahrenen Depressionspatienten geführt habe, wurde immer wieder deutlich, wie unverstanden sie sich in dem therapeutischen Setting gefühlt haben. Natürlich haben diese Patienten keine normierte Antwort erwartet wie bei der umfassenden Aufklärung und Vorbereitung zu einer Darmoperation, aber es entstand so häufig der Eindruck, dass ein Patient, der sich drei verschiedenen Therapeuten anvertraut hatte, drei vollkommen unterschiedliche Behandlungsansätze erfahren hat. Dabei reichte die Spanne bei einer Patientin von der Empfehlung einer sofortigen stationären Aufnahme in der psychiatrischen Klinik bis zu dem Vorschlag, es doch zuerst einmal mit Akupunktur zu versuchen! Wie kann das sein? Wir sind doch nicht auf dem Basar, wo über Behandlung und Preis erst einmal lang und ausgiebig verhandelt wird. Oder vielleicht doch?

    Und wie kann es sein, dass zwei therapeutisch unterschiedlich qualifizierte Behandler – Psychiater und Psychotherapeut – ein und dasselbe Krankheitsbild, die Depression, behandeln dürfen, wobei der eine über das gesamte Behandlungsspektrum einschließlich der medikamentösen Therapie verfügt, der andere aber nur das Wort und einzelne therapeutische Techniken einsetzen darf, die aber auch nur verbal angewendet werden? Wenn sich dann zwischen den unterschiedlichen Disziplinen auch noch Neid und Missgunst dazugesellen, dann ist ein ergebnisoffenes Gespräch im Sinne der Fortentwicklung einer medizinischen Disziplin nicht mehr möglich.
    Wer einen verdeckten Wasserrohrbruch im Hause vermutet, wird nicht nach einem Wünschelrutensucher rufen, sondern nach einem Klempner, wer seinen Porsche in die Werkstatt bringen muss, sucht eine auf, die sich auf Porsche spezialisiert hat. Wer dagegen dringend einen Therapeuten braucht, muss sich im Wesentlichen auf sein Glück verlassen. Wer bei stabiler Gesundheit ist, mag dieses Glücksspiel interessant finden, wer dagegen in seelischer Not ist, hat für solche Merkwürdigkeiten nur wenig Verständnis.
    Es gibt Ergebnisse aus der Versorgungsforschung, die belegen, dass erfolgreiche Kampagnen die Suizidrate in einer Großstadt erheblich vermindern können: durch intensive Aufklärung. Solche Kampagnen sagen aber noch nichts Positives für den Einzelnen aus, der an Depressionen leidet, belegen aber, dass es durch spezifische Maßnahmen gelingen kann, Menschen von ihrem Todeswunsch abzubringen. So sehr diese Maßnahmen zu begrüßen sind, so ist die Aussage doch etwa vergleichbar mit der Erkenntnis: Je mehr Feuerlöscher es in einem Haus gibt, desto geringer ist die Brandgefahr. Die Folge ist, dass jetzt jeder Haushalt über Brandmelder
in Schlafräumen und in Fluchttreppenhäusern verfügen muss. So funktioniert Politik im Verbund mit Feuerwehr und Versicherungswirtschaft.
    Leider wird aber in der angewandten psychotherapeutischen Forschung mit ihren etwa 500 Behandlungsverfahren nicht über Präventivmaßnahmen nachgedacht und ebenso wenig ausgesprochen, dass sich der Patient nichts mehr wünscht als eine zügige, effiziente Therapie seines seelischen Problems. Psychotherapeuten verfügen über die Lebenszeit ihrer Patienten wie einst Gutsherren über ihre Leibeigenen. Auch die konnten sich nur durch Flucht entziehen – und das stets mit äußerst ungewissem Ausgang.
    Meine Erfahrung ist, dass Therapeuten noch nicht einmal den Dialog mit ihren Patienten wirklich wollen.
    Es ist ein beliebtes Spiel unter Kindern auszuprobieren, wie lange der eine dem Blick des anderen standhält. Ein harmloses, aber vielsagendes Spiel. Wenn Erwachsene jemanden länger als zwei Sekunden mit dem Blick fixieren, dann empfinden wir diesen erzwungenen Augenkontakt als unangenehm. Schaffen wir es dagegen, den Blick des anderen auf ein interessantes Objekt wie ein Kunstwerk zu lenken, dann löst dieses durch Blicke formulierte gemeinsame Erleben Wohlbefinden aus, ähnlich der spontanen Einladung, doch gemeinsam einen Kaffee zu trinken. Die einzige Ausnahme ist der fixierende Blick von Verliebten, die nichts lieber tun, als in der euphorischen Situation gespürter Liebe dem anderen so lange wie irgend möglich in die Augen zu schauen. In dem Film »Casablanca« ist der Satz Humphrey Bogarts »Schau mir in die Augen, Kleines« vielleicht die Schlüsselszene. Es ist aber auch ein Satz, der sich bis heute größter Popularität erfreut, wenn es darum geht, exemplarisch einen Ausdruck von großer Sehnsucht und wissendem
Verzicht gleichermaßen zu beschreiben – das

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