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Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Titel: Pubertät – Loslassen und Haltgeben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Uwe Rogge
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Selbstmord. Oder ich mache das, weil ich mich hasse.» Sie schüttelt den Kopf. «Quatsch! Das hat wehgetan und Spaß gemacht. Das ist weniger gefährlich als die Sauftouren, die mein Vater als Jugendlicher unternommen hat, wo er dann mit besoffenem Kopp über hohe Brücken geturnt ist. Oder wenn meine Mutter erzählt, sie habe sich früher immer einen Knutschfleck machen lassen, mit dem sei sie dann in die Schule gegangen, um ihren Freundinnen zu zeigen, wie weit sie schon sei.»
    Ritzen
    Ganz anders sieht die Situation bei Joana aus. Sie ist ein Jahr älter als Janine, gehört zur Clique um Janine. Joana pierct und ritzt sich nicht, hat auch kein Tattoo. Joana – so die Beobachtung ihrer Freundinnen – säuft häufig so viel, bis sie nicht mehr weiß,wie sie heißt. Dann bringen sie sie nach Hause. Joana reißt sich regelmäßig, so die beste Freundin Marie, die Haare aus, insbesondere die Schambehaarung, und schluckt diese dann hinunter. Joana verletzt sich ständig – unabsichtlich, so scheint es. Ihre Arme, ihre Beine sind mit kleinen Wunden übersät, die, kaum sind sie verheilt, von Joana wieder aufgekratzt werden. Wenn die Wunde dann blutet, schaut sie interessiert, fast erleichtert zu. Den Wundschorf hält sie in der Hand, betrachtet ihn von allen Seiten, riecht daran, benetzt ihn mit der Zunge, um ihn dann angeekelt zu essen.
    Joanas Eltern zerbrechen sich wegen des Verhaltens ihrer Tochter den Kopf, reagieren freilich ohnmächtig, weil sie ihr merkwürdiges Verhalten nicht einschätzen können. Als die Eltern das Haareausreißen und das Aufkratzen von Wunden kommentieren («Sag mal, spinnst du?!») und versuchen, ihre Tochter zu reglementieren und die Handlungen zu unterbinden, droht Joana mit Selbstmord, weigert sich, an gemeinsamen Aktivitäten, vor allem dem gemeinsamen Essen, teilzunehmen, und hält das mehrere Tage durch. Danach geben die Eltern hilflos nach.
    Begonnen, so die Mutter, habe alles, als Joana in die Pubertät kam, «da war sie so 13». Schon vorher habe sie viele Stimmungsschwankungen gehabt, aber von da an sei alles extremer geworden. «Sie hatte einen Leistungsabfall in der Schule, zog sich in ihr Zimmer zurück. Nichts war ihr recht. Sie baute», erzählt die Mutter, «einen regelrechten Selbsthass auf.» Und von da an, so ihre Einschätzung, begann «diese Sache mit den Haaren, begannen diese Selbstverstümmelungen».
    «Das Perverse ist», ergänzt der Vater, «wenn sie sich kratzt und es blutet, dann wirkt sie ganz ruhig. Aber kurz darauf versteckt sie die Wunden. Wir kommen nicht mehr an sie heran!»
    Joana findet das Leben «absolute Scheiße. Ich finde mich scheiße. Keiner mag mich. Und meine Brüste, mein Bauch, meine Arme – die Brüste sind zu klein, der Bauch zu dick und dieArme zu lang. Ätzend, absolut ätzend, den mach ich fertig, meinen Körper, fix und fertig!»
     
    Nimmt man diese beiden Biographien und vergleicht sie, dann lässt sich – auf der Grundlage anderer Gespräche – eine wichtige Unterscheidung treffen: Selbstverletzungen können – Janine beweist dies – jugendkulturell geprägt sein. In körperlichen Selbstschädigungen kann sich aber auch – wie bei Joana – ein psychisches Problem, eine extreme seelische Zwangslage, ausdrücken.
    Janines selbstverletzendes Verhalten ist ein symbolischer Akt. Sie geht offen mit ihrem Piercen und ihrem Ritzen um. Janine zeigt es allen, sie provoziert, sie grenzt sich ab, sie macht auf sich aufmerksam. Piercen und Ritzen stellen wie das Tattooing oder andere Schnittverletzungen eine Art Aufnahmeritus dar, wie er in vielen Kulturen üblich ist: Wenn man diese Zeichen hat, gehört man dazu, man stellt Gemeinsamkeiten her.
    Zudem macht man durch den selbstverletzenden Akt eine ganz eigene körperliche Erfahrung, man geht an die Grenze dessen, was gerade noch auszuhalten ist. Das Piercen, das Ritzen sind mit Angst, mit dem Aushalten von Schmerzen verbunden, aber wer das einmal ausgehalten hat, der ist aufgenommen. Je vehementer die Eltern die Selbstverletzungen bekämpfen, je entschiedener sie diese ablehnen, umso intensiver wird die Abgrenzung von der elterlichen Kultur erlebt und empfunden. Janines Selbstverletzung kommt einer Reise des (Märchen-)Helden gleich, der ausziehen muss, um sich zu finden. Janine bereitet sich gedanklich auf den selbstverletzenden Akt vor. Sie bewährt sich, nachdem ein Versuch mit einer Niederlage geendet hatte. Schließlich das Happy End: Sie hält der Gefahr stand, läuft nicht

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