Pubertät – Loslassen und Haltgeben
Eltern war das gemeinsame Essen schon «ein richtiger Gräuel».
«Wenn du dich nicht wäschst, isst du nicht mehr mit uns», ermahnte sie vor allem der Vater. «Stinktiere sind sauberer als du!» Doch Susanne ignorierte die Mahnungen, aß vielmehr allein, stopfte dann das Essen ungehemmt und zügellos in sich hinein, um sich dann mit Schokolade und Pralinen zu belohnen. Als sie Suizidgedanken äußerte, nahmen die Eltern Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe auf, die Susanne nun seit einiger Zeit kontinuierlich besucht.
Während einige Heranwachsende mit anderen – mal sozial, mal destruktiv – kämpfen, haben Dorothea und Susanne ihre Körper zu Schlachtfeldern gemacht. Sie lassen ihre Gefühle nicht heraus, richten ihre Aggressionen gegen sich. Sie machen sich unansehnlich und bestrafen sich selbst. Eine Selffulfilling Prophecystellt sich ein: Keiner mag mich wegen meiner Leibesfülle, und weil mich keiner mag, fresse ich – so lange, bis ich platze.
Susanne und Dorothea sind adipositär, zeichnen sich durch ein – auch wenn dies wissenschaftlich so nicht korrekt ist – abnormes Übergewicht aus. Adipositas – so der medizinisch-psychologische Fachausdruck – ist ein weitverbreitetes Ernährungsproblem, das hinter der Magersucht (Anorexia nervosa) und der Bulimie (Heißhunger und Erbrechen) in der öffentlichen und publizistischen Aufmerksamkeit lange unbemerkt war. Nimmt man es genauer, kann Adipositas nicht mit erheblichem Übergewicht gleichgesetzt werden, wie ich es eben getan habe: Adipositas wird – so die Psychologin Warschburger – «durch einen übermäßigen Anteil der Fettmasse am Körpergewicht mit deutlicher Beeinflussung der Gesundheit definiert». Bei der Adipositas gilt es, Primär- und Sekundärfaktoren zu unterscheiden.
Da sind zunächst jene Faktoren, die bei der Ausbildung der Vermehrung des Fettgewebes eine Rolle spielen. Adipositas tritt familiär gehäuft auf. Genetische Faktoren sind zweifelsohne wichtig. Doch wird – so die übereinstimmende Auffassung – Adipositas nicht vererbt. Vererbt wird vielmehr die Empfänglichkeit, adipositär zu werden. In psychologischer Hinsicht fällt auf: Adipositäre Jugendliche sind gefühlsmäßig stark abhängig von ihren Eltern. Ihre Bestrebungen um Eigenständigkeit und Autonomie – also die schöpferische Aggression, die Neues schaffen will – werden häufig nur halbherzig unterstützt. Während Mütter meistens überfürsorglich und überbehütend handeln, zeigen sich die Väter eher zurückgezogen, uneindeutig, manchmal sarkastisch bis ironisch. Hinzu kommen noch Umweltfaktoren: Da sich adipositäre Heranwachsende schwer mit Bewegung tun, werden sie viel gefahren, werden Fernsehen und Computer zu einer Hauptbeschäftigung, werden Medien zum Rückzugsortund Fluchtpunkt, an dem man ungestört alles in sich hineinstopfen kann.
Doch fast noch wichtiger als die medizinischen und körperlichen Gesichtspunkte sind die psychosozialen Belastungen, die mit der Adipositas einhergehen. Solche Heranwachsende entwickeln ein negatives Selbstbild. Das führt dazu, dass sie sich als eingeschränkt, als unvollkommen wahrnehmen. Es kommt zu einer allgemeinen Unzufriedenheit mit sich, mit der Lebenssituation und in der Folge auch zu einem Rückzug aus sozialen Zusammenhängen. Adipositäre Jugendliche sind nicht nur isoliert, sie werden von Gleichaltrigen mehr oder minder abgelehnt. Sie sind Gegenstand von Spott und Hänseleien, Zielscheibe verbaler Aggressionen, werden häufiger als andere gemobbt. Dies führt zu einem verhängnisvollen Kreislauf: Sie leiden häufig darunter, von ihrer Nahwelt nicht akzeptiert zu werden. Diese Zurücksetzung und Ablehnung versuchen sie dann durch Essen zu kompensieren.
Therapeutische Maßnahmen sind unumgänglich. Denn je länger die Störung andauert, umso ungünstiger wird die Prognose. 80 Prozent aller übergewichtigen Kinder und Jugendlichen werden auch übergewichtige Erwachsene. Neben Maßnahmen, die das Essverhalten strukturieren, ist eine therapeutische Begleitung notwendig, die darauf angelegt ist, eine gefühlsmäßige Stabilität sowie ein Selbstwertgefühl zu entwickeln. Eine Mischung aus Ernährungsberatung, verhaltenstherapeutischen Verfahren und Elternseminaren erweist sich auf Dauer als erfolgreich.
Magersucht und Bulimie
Gerade bei jungen Mädchen stellte man im letzten Jahrzehnt eine Zunahme von Essstörungen fest, die Probleme in der Körperwahrnehmung mit sich bringen. Der eigene Körper
Weitere Kostenlose Bücher