Pubertät – Loslassen und Haltgeben
laufen auf die Loslösung des Pubertierenden vom Elternhaus hinaus. Aus einer in der frühen Kindheit symbiotischen Beziehung ist im Lauf der Zeit eine losere, aber immer noch feste Bindung geworden. Die Kinder waren auf die Eltern angewiesen, Eltern trugen die Erziehungsverantwortung, sie übernahmen die psychische und physische Versorgung der Kinder, boten die emotionale Grundversorgung. Daraus wird in der Pubertät eine partnerschaftliche, auf gegenseitige Anerkennung gründende Erziehungsbeziehung.
Pubertierende lernen nun, für sich zu sorgen, übernehmen Verantwortung für ihr Tun. Dies gelingt zunächst durch eine negative Abgrenzung: Jugendliche lehnen die Eltern, ihr Handeln, ihre Überzeugungen ab. Sie machen alles anders als Vater und Mutter.
Ablösung und Verbundenheit gehören eng zusammen. Wasauf kleine Kinder, die die ersten Schritte in die Welt machen, zutrifft, gilt auch in der Pubertät: Nur im Gefühl von Schutz und Geborgenheit können Kinder loslassen.
Das Loslassen hat schließlich auch eine materielle Seite. Je schneller ein Ausbildungsplatz vorhanden ist, je eher ein Pubertierender eigenes Geld verdient, umso eigenständiger stellt er sich dar.
Auf die persönlichen Probleme, die Eltern mit dem Loslassen haben, bin ich schon mehrfach eingegangen. Doch es gibt auch objektive Hindernisse, denn das Loslassen hat eine innere und eine äußere Seite. Und hier haben sich – wie der Jugendforscher Helmut Fend feststellte – Widersprüche aufgetan: Einerseits kann man eine frühere körperliche Reifung der Heranwachsenden, ja eine rapide Beschleunigung der Entwicklung feststellen. Andererseits bedeuten längere Ausbildungszeiten in Schule und Beruf eine zunehmende Abhängigkeit des Heranwachsenden von der Familie. Innere Unabhängigkeit und äußere Abhängigkeit bringen Probleme und Spannungen mit sich: Heranwachsende können häufig nicht so, wie sie möchten, müssen Persönlichkeitsanteile unterdrücken, was sich nicht selten in psychosomatischen Beschwerden ausdrückt: Kopf- und Rückenschmerzen, Kreislaufprobleme, Nervosität und Konzentrationsstörungen, von Magen-Darm-Problemen ganz zu schweigen. Psychosomatische Beschwerden sind damit auch ein Ausdruck von Spannungen, die sich aus den Widersprüchen des Ablösungsprozesses ergeben.
Eine eigene Identität entwickeln
Zur Ausbildung eines eigenen Ichs gehört ein inneres Gleichgewicht, das von außen durch Rollen- und Aufgabenzuweisungen gestärkt wird. Die Heranwachsenden bekommen durch ihr Tun und Handeln Erfolgserlebnisse, positive Verstärkung und Ermutigung.So sind sie bereit, sich auf Neues einzulassen, zu experimentieren, neue Wege zu gehen.
Doch bevor es zu einer Neuorientierung und Stärkung des Ichs kommt, müssen Jugendliche viele Irrwege, Sackgassen und Umleitungen durchwandern. Denn die Ich-Bildung vollzieht sich nicht geradlinig. Stete Veränderungen bringen für alle Beteiligten große Anstrengungen mit sich: Manche Eltern zweifeln am Verstand ihrer Kinder, sehen sie in der Gosse oder Psychiatrie landen. Manche Jugendliche leiden still vor sich hin, andere stellen ungeschminkt und grell ihr Leid öffentlich dar.
Zur Identitätsbildung gehört es, dass Heranwachsende sich in ihrer Unvollkommenheit und Fehlerhaftigkeit annehmen lernen. Sie müssen die damit einhergehenden Spannungen aushalten. Die Ausbildung einer neuen, erwachsenen Identität stellt sich also als längerer Prozess dar, der durch Kontinuität und Bruch gekennzeichnet ist.
Wenn Eltern diese Zeilen lesen, werden manche einwenden: Der hat gut schreiben. «Leben Sie einmal mit einem Größenwahnsinnigen unter einem Dach», sagt eine Mutter, und ein Vater ergänzt: «Er besucht das Gymnasium und redet nur noch Scheiß. Ein Wahnsinniger!» – «Einmal ist meine Tochter eine absolute Ziege», klagt eine Mutter, «zickig, meckerig, mit der ist nicht mehr auszukommen. Sie spuckt Gift und Galle. Und dann will sie mit einem Mal auf den Schoß. Die ist doch nicht ganz richtig im Kopf!»
Ich verstehe den Unmut, die Irritation, die Unsicherheit vieler Eltern, wenn der Heranwachsende in der Vorpubertät beginnt, Gewohntes über Bord zu schmeißen, aber noch keine neuen Segel hat, um zu neuen Ufern aufzubrechen. Denn Umbruchphasen gehen mit heftigen emotionalen Krisen einher, mit Zorn und Wut, mit Trauer und Tränen, stellen hohe Anforderungen an die Eltern. Aber Krisen sind Zeichen für eine Auseinandersetzung,die Heranwachsende mit sich und der Welt führen
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