Pubertät – Loslassen und Haltgeben
realistische Ideen zu konzipieren, nach dem Lebenssinn und Lebensperspektiven zu suchen. Nicht allein die konkret-unmittelbare Wirklichkeit ist nun wichtig, in der Pubertät wird die abstrakte Wirklichkeit bedeutsamer, die mit formal logischen Operationen und systematischem Denken zu durchdringen ist.
Zunehmend verfügen Heranwachsende über eine kritisch-analytische Fähigkeit, und diese setzen sie vehement im Streit und in den Auseinandersetzungen mit den Eltern ein: Widersprüche in ihrer Argumentation werden aufgedeckt, den Dingen auf den Grund gegangen, elterliche Kompetenz hinterfragt, ihre vermeintlichen Irrtümer benannt. So, wie die «Warum»-Fragen des dreijährigen Kindes Eltern auf unendliche Geduldsproben stellen, so ähnlich gilt es in der beginnenden Pubertät, Geduld und starke Nerven zu bewahren.
Die theoretische Annäherung an die Realität, die mehrdimensionale Anschauung der Wirklichkeit bringt Probleme mit sich: Vieles wirkt auf den Heranwachsenden bedrohlich, die Zukunft erscheint wie ein schwarzes Loch, Resignation und Selbstzweifel entstehen genauso wie Wünsche nach Vereinfachung. Deshalb haben extreme Gruppierungen oder Sekten mit vereinfachenden Weltbildern eine besondere Anziehungskraft für Heranwachsende. Die Illusion von Geborgenheit wird zum problematischenAngebot, auf das mancher Heranwachsende abfährt, weil er die Spannung zwischen Prometheus, der die Welt neu erschaffen will, und der alltäglich erlebten Ohnmacht nicht aushält.
Freundschaften
Um sich diesen Herausforderungen zu stellen, brauchen Pubertierende das Gefühl, emotional aufgehoben zu sein. Eltern genügen nun nicht mehr den Ansprüchen. Der Kontakt zu Gleichaltrigen wird zum unverzichtbaren Experimentierfeld. Viele Eltern sehen dies mit Skepsis und Unbehagen. Manche Eltern betrachten die Freunde ihrer Kinder geradezu als unbequeme, lästige Gegenspieler, als gefährliche Verführer.
«Ich hatte ein gutes Verhältnis zu meiner Tochter. Aber seit sie ihre beiden Freundinnen hat, ist sie weniger offen. Sie zieht sich mit ihnen zurück!»
«Mein Sohn hat einen problematischen Freund, der ist älter, den bewundert er maßlos. Jetzt habe ich Angst, dass er auf die schiefe Bahn kommt.»
«Seit mein Sohn die Freunde hat, ist nichts mehr wie früher. Er ist frecher, führt viele Widerreden, schaut sich Videos an, die absolut nichts für ihn sind. Ich meine, er raucht auch, weil seine Sachen nach Rauch stinken.»
«Es tut mir schon weh, wenn ich sehe, wie sich meine Tochter mir verweigert. Sie kommt zwar noch gerne. Aber das wirkliche Leben spielt sich für sie jetzt woanders ab.»
Die Hinwendung zu Gleichaltrigen und die Distanzierung zu den Eltern gehen Hand in Hand. Die Aufnahme von Freundschaften ist eine wichtige Station auf dem Weg in die Eigenständigkeit und primär nicht gegen die Eltern gerichtet. Im Gegenteil: Nur auf einem sicheren emotionalen Fundament ist eine vorbehaltloseHinwendung zu Freunden möglich, die von den Eltern als Konkurrenten angesehen, für Reibereien im Alltagsleben verantwortlich gemacht werden. Und zweifellos kann eine Clique Streit innerhalb einer Familie auslösen oder verstärken.
Doch steht hinter den zunehmenden Konflikten ein viel zentraleres Motiv: Pubertierende wollen sich von ihren Eltern kulturell, sozial und normativ abgrenzen. Bestimmte Themen werden, sobald Freunde auftreten, aus der Eltern-Kind-Kommunikation ausgeklammert.
Wenn die Offenheit sinkt, stellt dies kein Misstrauensvotum gegenüber den Eltern dar. Heranwachsende betrachten sich als eigenständige Personen, die sich ihre Kommunikationspartner nach ihren Kompetenzen aussuchen. So bereden sie Dinge des Alltags, des Konsums, der Medien, der Freizeit und Freundschaftsangelegenheiten häufig mit Gleichaltrigen, haben sie (nicht zu Unrecht) bei den Eltern doch das Gefühl, sie würden bei diesen Themen kontrollierend eingreifen.
Demgegenüber stehen Eltern bei Zukunftsangelegenheiten, bei Diskussionen über Beruf und ethisch-moralische Fragen hoch im Kurs. Deshalb ist Gelassenheit angesagt, wenn es um Freundschaften geht, aber Gelassenheit darf nicht mit Gewährenlassen verwechselt werden. Wer aber mit Antipathie auf die Freunde von Tochter oder Sohn reagiert, darf sich nicht wundern, wenn das Band der Freundschaft nicht nur intensiver wird, sondern zugleich die Bedeutung der Freunde wächst, die Sie als «schlimm» empfinden. Konflikte sind dann vorprogrammiert.
Ein Verbot, bestimmte Freunde aufzusuchen
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