Pubertät – Loslassen und Haltgeben
Problem ansprechen dürfe. Ihre Mutter habe sich bisher nicht getraut. Ich nicke, sie sagt mit fester Stimme: «Warum bekomme ich, wenn ich am Freitag in die Disco gehe, keine Zeit mit, wann ich zu Hause zu sein habe?» Zunächst bin ich irritiert, denn diese Frage hatte ich nicht erwartet. Sonst geht es zumeist um die Klagen von Heranwachsenden, ihnen würden zu enge zeitliche Grenzen gesetzt. Ich bitte sie darum, ihre Frage zu wiederholen. Und Angela – ganz selbstbewusst – setzt von neuem an: «Warum bekomme ich, wenn ich am Freitag in die Disco gehe, keine Zeit mit, wann ich zu Hause zu sein habe?» – «Willst du denn eine Zeit haben?», will ich wissen. Ohne zu zögern, antwortet Angela: «Na klar!» – «Und warum?» Sie lächelt: «Ich möchte mich streiten,und dann möchte ich wissen, dass es Mama nicht egal ist, wenn ich nicht komme!»
Angelas Mutter, Frau Hubert, ist perplex. Sie konnte das kaum glauben: «Das gibt’s doch gar nicht! Mein Gelichen, ich meine es doch gut mit dir. Mein Gelichen, ich hab dich doch so lieb.» Dann wendet sie sich an mich: «Ich durfte als junges Mädchen nicht länger wegbleiben, musste als Erste zu Hause sein, ich hatte keine Freundin, war häufig Außenseiterin. Und ich hab mir damals geschworen», sie hebt wie automatisch ihre rechte Hand, «ich hab mir geschworen, wenn du eine Tochter hast, schreibst du ihr, wenn sie erwachsen ist, keine Zeit vor, wann sie zu Hause zu sein habe. Das soll sie selbst bestimmen. Sie ist groß.» Sie zieht resigniert die Schultern hoch. «Wie man’s macht, so macht man’s verkehrt.» – «Nein», erwidert Angela mit Entschiedenheit, «mach es so, wie du es wirklich möchtest. Dann machst du es richtig!» – «Aber, Angela», reagiert die Mutter erschrocken, «was soll denn das heißen?» Angela lächelt weise: «Ich bin nicht du, und du bist nicht Oma!»
Pubertierende haben ein untrügliches Gespür dafür, wann und ob sich ihre Eltern nicht authentisch verhalten. Mütter und Väter, die in Selbstmitleid zerfließen, sind ihnen genauso ein Gräuel wie Eltern, die sich um der Kinder willen aufopfern und eigene Befindlichkeiten nicht mehr artikulieren mögen.
Angelas Bitte um Klarheit verdeutlicht noch einen anderen wichtigen Aspekt: Die Durchsetzung von pädagogischen Absichten mit Macht und emotionalem Druck und der Verzicht auf Grenzen und Regeln sind zwei Seiten einer Medaille. Viele Eltern sehen vor allem das Freiheitsstreben ihrer pubertierenden Kinder und gewähren ihnen Rechte und Freiräume. Das ist notwendig, um Heranwachsenden ein eigenverantwortliches Tun zu ermöglichen. Aber viele Eltern vergessen dabei, dass die Freiheit, die keine Regeln, keine Grenzen kennt, Jugendliche erschreckt. Freiheit kann auch verunsichern. Eine Freiheit, bei der Jugendlicheneine innere Verbundenheit zu den Eltern fehlt, verängstigt sie. Erst im Wissen um den sicheren Hafen, den man bei Sturm und Unwetter jederzeit anlaufen kann, können Pubertierende den Hafen verlassen, um den unbekannten Ozean zu erkunden.
Kinder haben kein Interesse daran, dass ihre Eltern an ihnen frühere Fehler abarbeiten oder wiedergutmachen. Pubertierende wollen von ihren Eltern so angenommen werden, wie sie sind. Und sie selbst wollen ihre Eltern genau so annehmen, wie diese sind: mit kleinen Schwächen und großen Stärken, mit ihren vielen Fehlern und ihren Bemühungen, diese zu vermeiden. Pubertierende haben Schwierigkeiten mit Eltern, die perfekt sein, alles richtig machen wollen. Jugendliche möchten nicht, dass ihre Väter und Mütter eine Beziehung aufbauen, in der sie sich als Vorzeigeobjekte missbraucht fühlen. Wenn Pubertierende dies spüren, dann gehen sie in einen Beziehungsclinch, um Eltern auf den Boden der Tatsachen zu holen – als wollten sie sagen: Wenn ihr die Fehler eurer Eltern vermeidet, dann macht ihr andere.
Als ich diese Überlegungen in einem Elternseminar darlege, fällt mir Anna, Mutter von zwei Töchtern, ins Wort: «Recht haben Sie. Ich hab meine Lektion gelernt!» Ihr Vater sei ziemlich autoritär gewesen und habe ihr wenige Freiheiten gelassen, erzählt sie. Er hatte seine Stärken, aber er gab nicht nach. «Mein Vater wusste partout, was gut für mich war. An einen Tag erinnere ich mich besonders gut. Ich war 14», fährt sie fort. «Am Freitag fand ein Fest in unserem Dorf statt. Meine Freundinnen waren dort und auch Jürgen, den wollte ich unbedingt sehen!»
«Jürgen?», frage ich.
«Ja, Jürgen, mein jetziger Mann. Der
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