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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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selbst Sammlerstücke. Bei Hamilton erfährt man außerdem von dem liebenswerten Detail, dass McKune gelegentlich auch hypothetische Platten in seine Listen aufnahm. Einmal inserierte er nach »Blues auf schwarzen Vocalion, mit Masternummern aus San Antonio«, also nach Platten, die im selben Studio und in derselben Woche aufgenommen wurden wie Robert Johnsons berühmteste Studiosessions. (Goethe, der nach der Urpflanze sucht!)
    Das, was McKune zu hören bekam, als tatsächlich Platten bei ihm eintrafen, schlug ihn vollkommen in Bann. Dass Hamilton dieses faszinierende Etwas nicht reflexartig mit der Projektion einer »primitiven«, »unverfälschten« oder »rohen« Qualität wegerklärt, beweist ihre Seriosität und sollte von allen Vorkriegsmusik-Nerds anerkannt werden. Derlei Ausdrücke haben Jazzsammler tatsächlich lange Zeit benutzt, Sammler, die diese Musik zum größten Teil abgetan haben als Wegwerfware für Bauerntölpel, als Kleinkunst von Menschen, die so arm waren, dass sie es noch nicht mal bis nach New Orleans schafften. Wir können, wie Hamilton das auf intelligente Weise tut, über die ausufernden Dimensionen von McKunes Obskurantismus nur Mutmaßungen anstellen – beispielsweise darüber, inwiefern seine Einschätzung von Charley Patton als größten aller Country-Blues-Sänger von der Tatsache beeinflusst war, dass Pattons Platten die verworrensten und am wenigsten verständlichen waren, weswegen sich am meisten in sie hineinlesen ließ –, aber die peinlich genaue Aufmerksamkeit, mit der er sich immer alles anhörte, spricht für ihn.
    Selten äußerte sich McKune als Kritiker öffentlich in geschriebener Form, aber wenn er das tat, dann verwendete er immer wieder ein bestimmtes Wort. Als er 1960 an VJM Palaver einen Leserbrief zu Samuel Charters' damals gerade herausgekommenem Buch The Country Blues schrieb, bemängelte
er, dass Charters sich auf Sänger wie Blind Lemon Jefferson und Brownie McGhee konzentriert habe, die zwar die meisten Platten verkauft hätten, deren jeweiliges Œuvre er aber mittelmäßig und zu glatt fand. Sein Brief kommt vor lauter dem Narzissmus der kleinen Differenz geschuldeter unausgesprochener Wut geradezu ins Stottern, aber das Wort, das wieder und wieder fällt, ist groß . Zum Beispiel: »Jefferson hat nur eine einzige Platte gemacht, die ich als groß bezeichnen kann.« (Hervorhebung von McKune) Oder: »Ich kenne zwanzig Männer, die den Country Blues der Neger sammeln. Uns alle interessiert nicht, wer am meisten verkauft, sondern wer der größte Country-Blues-Sänger ist.« (Hervorhebung wieder von ihm.) Und weiter unten: »Ich schreibe für alle, die sich eine andere Bewertungsgrundlage für Blues-Sänger wünschen. Diese Grundlage ist ihre relative Größe.«
    Als ich diesen Brief in Hamiltons Buch sah, kam mir die Erinnerung an ein Telefongespräch mit Dean Blackwood, John Faheys Partner bei Revenant Records, in dem er mir von früheren Diskussionen mit Fahey über das Phantome-Projekt erzählte. »John und ich fanden schon immer, dass die Größe dieser Leute nicht genug Anerkennung bekommt«, hatte er gesagt. »Erst in der Zusammenschau kann man die Kraft und die Wirkmächtigkeit ihrer Musik verstehen.«
     
    Anstatt die geschwollene Großsprecherei dieser Äußerungen als naiv abzutun, könnten wir uns auch der Frage widmen, ob es nicht eine einfache technische Erklärung gibt für das Gefühl, das sich in solchen Worten ausdrückt. Oder das unausgedrückt bleibt. Ich glaube, es gibt eine Erklärung, und zwar diese hier: Die Geschichte des Blues wurde vom Rock'n'Roll annektiert, der auf einer Welle jugendlicher Konsumfreude zur Weltherrschaft ritt. Aber es gibt noch etwas, das vor dem Blues und damit vor dem Rock'n'Roll liegt, eine tiefere, ergiebigere Quelle. Viele Leute, die über diese Musik geschrieben
haben, haben das bemerkt. Robert Palmer nannte es »Deep Blues«. Wir sprechen hier natürlich über Subgenres von Subgenres, aber hören Sie sich mal ein Stück an wie Ishman Braceys »Woman Woman Blues«, die Stelle, wo er mit seinem brüchigen, aber in gewisser Weise gleichzeitig absolut makellosen Falsett singt: »She got coal black curly hair.« Lieder wie dieses wurden nicht zum Tanzen gemacht. Auch nicht zum Mitsingen. Sie sind zum Hören da, nur für Erwachsene. Als Kammermusik. Hören Sie sich Blind Willie Johnsons »Dark Was the Night, Cold Was the Ground« an. Ein Lied ohne Worte, das von einem blinden Prediger gesummt wird, dem es nicht

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