Pulphead
Hirngespinst, manchmal wortwörtlich ein »pipe dream«, den ich mit einer Pfeife in der Hand träumte. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber die jamaikanische Musik scheint in Sachen Kreativität einfach eine höhere Spannung zu haben. Vielleicht ist es ein Effekt der Insellage. Isolation führt bisweilen zu solcher Intensität. Irland zum Beispiel ist in vielen Dingen tiefste Provinz, und doch: Yeats, Beckett und
Joyce innerhalb eines Jahrhunderts – wie kommt so was? In Kingston tauchten innerhalb eines Jahrzehnts Bob Marley and the Wailers auf, Toots and the Maytals, Jimmy Cliff, Desmond Dekker, die Pioneers und die Paragons, die Melodians und die Ethiopians, die Heptones und die Slickers, die Gaylads und dazu noch ein ganzes Register von Leuten, deren Namen Sie vielleicht nicht kennen, die man aber nicht mehr vergisst, wenn man sie einmal gehört hat. Ein Wirbelsturm von Weltklassetalenten. Die meisten von ihnen kamen aus denselben miesen Sozialbauten und sangen, um von dort zu entkommen. Zum Teil ist es diese Sehnsucht, diese leuchtende Hungrigkeit, die man aus diesen Songs heraushört.
Das ist aber nicht alles. Der Grund, warum die großen jamaikanischen Sachen im Laufe der Zeit, über die Jahre hinweg immer bedeutsamer werden, und zwar nicht aus Nostalgie, sondern was ihren Sinn und die Nuancen angeht, besteht darin, dass es sich um spirituelle Musik handelt. Das ist die Anomalie, die ihrer Kraft zugrundeliegt. Es ist spiritueller Pop – nicht auf die kalkulierte Weise christlicher Rockmusik, sondern von innen heraus. Ermöglicht hat das der Rastafarianismus, der sich der in Kingston neu entstehenden Plattenindustrie bediente, um seine Existenz und seine Sichtweise zum Ausdruck zu bringen. Der amerikanische Rock'n'Roll ist immer eine Bewegung weg von Gott und hin zur Teufelsmusik, doch in Jamaika waren die kulturellen Bedingungen andere. Pop wuchs Jah entgegen.
Wie erwartet stellte sich heraus, dass es nicht leicht sein würde, mit Bunny in Kontakt zu treten (er ist für seine Zurückgezogenheit bekannt). E-Mail-Adressen brachten Antworten von anderen Leuten, die mir rieten, an wieder andere E-Mail-Adressen zu schreiben und andere Nummern anzurufen. Irgendwann erhielt ich endlich eine Nachricht. Überraschenderweise kam sie direkt von ihm. Ich erwarte dich , teilte sie mir mit. Der genaue Text der E-Mail lautete: »Grüße. Du kannst
mit den Reisevorbereitungen fortfahren. One Love , Jah B.« Der Absender wurde als Neville Livingston angezeigt, Bunnys echter Name (Neville O'Reilly Livingston).
Seitdem herrschte absolute Funkstille. Die Einladung hätte genauso gut von einem bekifften Witzbold in Dänemark stammen können. Außerdem hatte ich gelesen, dass Bunny zwischen Kingston und einer Farm in den Bergen pendelt. Was, wenn ich dort ankam und er irgendwo im Landesinneren war, wo ich ihn nicht erreichen konnte?
Llewis (sic) holte mich am Flughafen ab. Wir hatten vorab ein paarmal telefoniert. Man hatte ihn mir als jemanden empfohlen, der sich in Kingston auskannte. Aus irgendeinem Grund wollte Llewis nicht mit einem Schild bei der Gepäckausgabe auf mich warten. Nicht, dass ich darum gebeten hätte, aber es wäre das Einfachste gewesen. Stattdessen sollte ich zu den Mädchen gehen, die in ihren gelben Westen an der Abfertigung standen, und ihnen sagen, dass ich nach ihm suchte; sie würden mir zeigen, wo er war. Ich ging zu ihnen.
»Da ist er«, sagten sie und zeigten nach draußen auf einen großen Typen, der jünger aussah, als er geklungen hatte. Weißes Polohemd, Sonnenbrille. Als ich näher kam, sah ich, dass er doch ein Schild hielt. Darauf stand ein anderer Name.
»Hallo. Llewis?«, sagte ich.
»John?«, sagte er.
»Ja.«
Er nahm das Schild runter. »Ich hab das nur für einen Freund gehalten«, sagte er, »um ihm die Ehre zu erweisen.«
Trotzdem nahm er das Schild mit zum Parkplatz. Llewis hat mir weder jemals dieses Kein-Schild/falsches-Schild-Durcheinander sinnvoll erklären können noch warum sein Name mit zwei »l« anfing. Zu dieser Frage wollte er überhaupt nichts sagen. Als ich Jamaika verließ, dachte ich immer noch über diese Dinge nach. Sie waren allerdings die einzigen Rätsel die
ser Art. Ansonsten war er immer auffallend um Direktheit bemüht. Ich kann ihn nur jedem empfehlen, der Kingston besucht. (P. S.: Später verriet er mir, dass seine Mutter den Namen in einem Buch so gelesen hatte, auch wenn andere Leute ihm sagten, dass es einfach ein Druckfehler war; » LOL
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