Pulphead
in einem DuPont-Labor arbeitete. Es ist eine Runde-Boy-Nummer und damit Teil eines Subgenres, das die jamaika
nischen Soundsysteme zwischen 1965 und 1967 eroberte. Die »Rudies«, wie die jugendlichen Draufgänger genannt wurden, die das Bürgertum von Kingston einschüchterten und faszinierten, waren zu einer nationalen Bedrohung geworden. Jeder zweite große Ska-Star meldete sich mit einer Botschaft zu Wort. Es gab Pro-Rude-Boy-Songs, Anti-Rude-Boy-Songs, und Songs, die man nicht eindeutig einem Lager zuordnen konnte. Unter den Augen der gesamten Insel hob ein intensives Konkurrenzdenken (an dem es der jamaikanischen Musik nie gefehlt hat) das Songwriting auf ein neues Niveau. So entstanden etliche klassische Songs.
Keines dieser Lieder steht auf einer Stufe mit »Let Him Go«, dem Lied, das Bunny Livingston geschrieben hatte. In der Begleitband spielten einige Mitglieder der Skatalites als Nebenjob. Sie legten einen beschwingten, blechernen Rhythmus hin, nur am Ende ein wenig verschleppt, ganz leicht verwischt, ein Groove, der aus heutiger Sicht den Übergang zwischen Ska und Rocksteady markiert. Wenn ich höre, wie er anfängt, fühle ich mich wie der Puck auf einem Air-Hockey-Tisch, der gerade angeschaltet wurde. Ooo-ooo-ooo-ooo , die Stimmen schichten sich übereinander und werden zu einem Akkord, und kurz nachdem er komplett ist, geht es weiter mit
»Rudie come from jail 'cause Rudie get bail.
Rudie come from jail 'cause Rudie get bail . «
Auf der Aufnahme gibt es einen Laut, ein gesungenes »So!«, genau zwischen Sekunde neunundneunzig und Sekunde einhundert: Die Wailers, die Rudie wie immer verteidigen, haben gerade gesungen: »Remember he is young, and he will live long.« Und dann macht jemand – wer genau, lässt sich nicht erkennen – dieses Geräusch. Stimmt es vielmehr an. Es scheint nicht aus dem Studio zu kommen – es passt nicht zur Textur der Session; es entspringt viele Kilometer entfernt und ist
durch ein offenes Fenster hereingekommen. Irgendwo im Landesinneren von Jamaika hat sich ein Ziegenhirte mit seinem Stab zurückgelehnt und diesen Laut ins Tal hinabgeschickt, und er war für niemandes Ohren bestimmt, sondern allein für Jah. Soooo! – der Vokal verklingt schnell und ohne Echo, die pure Lebenskraft. Hat Bunny diesen Laut ausgestoßen?
Llewis kam am nächsten Morgen zwanzig Minuten zu früh und hatte den guten Wagen dabei, ein blaues Modell von Toyota, das man in den USA nur selten sieht und das irgendwie deutsch aussah, was tatsächlich passend war, denn wie ich in den folgenden Tagen oft genug feststellen durfte, war Llewis ein leidenschaftlicher Fan der deutschen Fußballnationalmannschaft. Egal, was er tat, mit einer Hälfte seines Hirns verfolgte er ständig ihr ungehindertes Weiterkommen bei der Weltmeisterschaft in Südafrika. Er war vielleicht die einzige Person in Jamaika, die so fühlte. Während wir durch die Gegend fuhren, sprach er ständig über sie und ihr Zusammenspiel.
Ich fragte ihn, ob er beim Interview mit Bunny dabei sein wollte. »Klar«, sagte er. »Vielleicht ist er dann lockerer.«
»Meinst du, dass er bei mir verkrampft?«, fragte ich.
»Er lebt ziemlich zurückgezogen, oder?«, antwortete Llewis diplomatisch.
Bunny wohnte in einer Gegend, in der nur jedes vierte oder fünfte Straßenschild intakt war. Ich hatte meinen Finger auf der Straßenkarte, während Llewis Kreuzungen zählte und U-Turns machte, bis wir die kurvige Straße fanden, in der es sein musste. Es sah aus wie in Kuba, nur trister. Die Straßen waren übel zerfurcht. Die Häuser wirkten wie kleine Festungen; wer es sich leisten konnte, hatte hohe Mauern mit Glasscherben oder Stacheldraht oben drauf. Auch wenn es innen vielleicht anständig aussah, viel Schatten und schöne Farben, sollte man das von außen nicht sehen.
Es schockierte mich nicht, dass Bunny Wailer in einer armen Gegend lebte. Es war kein Slum, und er hatte immer schon
ein bescheidenes Leben vorgezogen (als er auf die erste Welttournee der Wailers 1973 verzichtete, weil man sich über die weitere Entwicklung der Band nicht einig war, zog er sich bekanntlich in eine baufällige Hütte am Strand zurück, lebte von Fisch aus dem Meer und schrieb Lieder.) Ich war dennoch überrascht, wie schäbig alles war, und auch Llewis ließ eine Bemerkung dazu fallen. Bunny Wailers Musik – Lieder, an denen er mitgewirkt hatte – lief schon seit Ewigkeiten in jedem Wohnheim und jedem Coffee-Shop, und er fuhr einen
Weitere Kostenlose Bücher