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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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Zivilisten – wie viele, wissen wir nicht, weil die Regierung aller Wahrscheinlichkeit nach die Zahlen herunterspielte, ein verzweifelter Versuch, die letzten Reste der so wichtigen Tourismussaison zu retten.
    Es endete in einer Farce. Dudus wurde an einer Straßensperre auf einem Highway außerhalb von Kingston erwischt. Am Steuer saß sein spiritueller Berater. Sie behaupteten, auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft zu sein, wo Dudus sich stellen wolle – aber nicht den Jamaikanern, sondern den Amerikanern. Dudus trug eine schwarze, lockige Damenperücke, eine schwarze Gucci-Kappe und eine runde Nickelbrille für alte Ladys. Einige behaupteten, man habe ihn für das Polizeifoto so angezogen, um ihn schwach aussehen zu lassen und seine noch immer loyalen Kämpfer zu entmutigen, aber wahrscheinlich hatte er sich verkleidet, um sich frei bewegen zu können. Einer der Soldaten vor Ort erzählte später, Dudus ha
be seltsam glücklich gewirkt, als man ihm die Handschellen anlegte. Er war so sicher gewesen, getötet zu werden, dass man ihm die Erleichterung ansah, als er erkannte, dass alles rechtmäßig ablaufen würde. Jetzt war er in New York, wo er auf nicht schuldig plädiert hatte.
    Zu den mysteriösesten Dingen, die im Vorfeld des Dudus-Kriegs geschehen waren, gehörte, dass Bunny Wailer eine Dancehall-Single mit dem Titel »Don't Touch the President« aufgenommen hatte, auf der er Dudus als unschuldigen Robin Hood darstellte. ( President und Pressy sind zwei von Dudus' vielen Spitznamen.)
     
    »Don't touch the president, inna di residen'.
    We confident, we say him innocent.
    Don't touch the Robin Hood, up inna neighborhood
    Because him take the bad, and turn it into good.«
     
    Warum schlug sich ein elder statesman der jamaikanischen Kultur auf die Seite der Massen, die im Fernsehen zu sehen waren und sich in den Straßen von Kingston schreiend der Justiz in den Weg stellten? (Die Kameras der internationalen Nachrichtensender konzentrierten sich auf eine offenbar verrückte Frau mit einem handgeschriebenen Schild aus Pappe, auf dem sie Dudus mit Jesus Christus verglich. Das Bild wurde wochenlang in Hunderten von Ländern ausgestrahlt, als typischer Ausdruck des karibischen Chaos.)
    Der Verkehr war jetzt dichter. Auf dem Weg zum Hotel drehte Llewis das schrottige Radio des Lieferwagens auf. Der DJ spielte »Slow Motion« von Vybz Kartel, dem im Moment wahrscheinlich angesagtesten Dancehall-Sänger in Jamaika. Aktuell saß Vybz im Gefängnis, aufgrund des vagen Verdachts, in Gewalttaten verwickelt gewesen zu sein, die irgendetwas mit Dudus zu tun hatten. »Wir hoffen aber, dass er bald wieder draußen ist«, sagte Llewis auf der Fahrt. »Vielleicht diesen
Freitag.« Das war die Musik, die Llewis liebte, nicht die alten Sachen (die er kannte und respektierte). Wenn die Wailers heute spielen würden, würden sie solche Sachen machen. Ein junges Pärchen im Auto neben uns grinste und nickte mit den Köpfen, als wir vorbeifuhren. Ich konnte mich nie richtig für Dancehall begeistern, aber jetzt wurde mir klar, dass ich Dancehall nur noch nie richtig gehört hatte. Man kann sich Dancehall nicht einfach »anhören«. Dancehall geschieht; man muss vor Ort sein. Der DJ mischte drei oder vier verschiedene Songs ineinander. Kartels hypnotische Stimme schwebte über den Beats, die plötzlich aussetzten und nur das umnebelte Pulsieren des Basses zurückließen, während der Gesang weiterging. »Das ist die Gegenwart«, fragte ich, »richtig?« »Genau richtig. Die Gegenwart«, sagte Lewis. Er pochte mit dem Finger auf das Radio. »Das passiert in diesem Augenblick. Genau richtig.«
    Im Hotel lud ich »Slow Motion« herunter. In dieser Version war es etwas lahm. Es klang wie der Karaoke-Mix von dem, was wir im Auto gehört hatten. Vybz lebte nicht im Computer. Er lag über Kingston in der Luft.
     
    Ich rief Bunny an. »Ja«, sagte die Stimme. Nicht »Ja?«. Ja. »Mr. Wailer?« Was sollte man sonst sagen? Ich wollte ihn nicht Jah B. nennen. Wir sprachen kurz. »Das können wir machen«, sagte er. Er nannte mir eine Adresse, ein paar Blocks entfernt von einem der großen Boulevards. Kein besonders vornehmer Teil von Kingston. Wir verabredeten einen Zeitpunkt. » Bless «, sagte er.
    Beim Einschlafen hörte ich ein Lied, das mir in den Wochen vor der Abreise immer wieder durch den Kopf gegangen war, »Let Him Go«, ein Lied, das Bunny 1966 geschrieben hatte, als Bob Marley in Delaware unter dem Namen Donald als Assistent

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