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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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benutzte Musik als Waffe, um von einem Niemand zum Jemand zu werden, zum Musiker.« Bunny erzählte von den ersten, nicht sonderlich erfolgreichen Bob Marley-Singles, die unter verschiedenen Namen (einer war »Bobby Martell«) vom wegweisenden
chinesisch-jamaikanischen Ska-Produzenten Leslie Kong veröffentlicht worden waren. Eine davon, ein Song namens »Terror«, ist eine Art Heiliger Gral unter den Sammlern jamaikanischer Schallplatten. Bisher ist noch kein einziges Exemplar aufgetaucht. Bunny deutete an, dass der Song zu radikal für eine Veröffentlichung gewesen sei, der Regierung hätte das nicht gefallen. »Viele kennen den Song gar nicht«, sagte Bunny. »Ein schrecklicher Song.« Er meinte schrecklich im Sinne von furchteinflößend. Es haute mich um, als er eine Strophe daraus zitierte:
     
    »He who rules by terror
    Doeth grievous wrong.
    In hell I'll count his error.
    Let them hear my song.«
     
    »Sie haben ihn versteckt«, sagte Bunny. »Den Song kennt keiner, sie haben ihn versteckt. It hidden .«
    Später entdeckte ich, dass diese Zeilen aus Tennysons Gedicht »The Captain. A Legend of the Navy« stammen, mit ein paar kleineren Veränderungen hier und da. Vielleicht ein Gedicht, das Bob in der Schule auswendig lernen musste? Es erzählt die Geschichte eines Schiffs – ein Phantom-Vorläufer des Schiffs in Marleys »Slave Driver« –, dessen Kapitän so grausam ist, dass seine Männer gemeinsam Selbstmord begehen. Sie folgen seinem Befehl und leiten den Angriff auf ein feindliches Schiff ein, doch dann legen sie die Waffen nieder und lassen ihr Schiff in Stücke schießen. Captain Marley, der bereits sieben Jahre tot war, als »Slave Driver« erschien, geistert eindeutig durch diesen Song. Er hatte Bob als Kleinkind verlassen. Bobs Mutter wurde dann die Geliebte von Bunnys Vater. Zeitweilig wohnten die beiden Jungs unter einem Dach. Sie kannten sich so gut, dass Bunny sich noch Jahre später an ein Lied erinnern konnte (und eine Version davon auf
nahm), das Bob als Junge geschrieben hatte, ein Mitsing-Stück namens »Fancy Curls«.
    An dieser Stelle entschuldigte sich Bunny und zog sich zu einer Art Lunch/Siesta zurück. Llewis und ich saßen ungefähr eine Stunde im Innenhof und unterhielten uns leise. Er hatte recht gehabt; seine Anwesenheit hatte Bunny entspannt. Immer wenn ich mein Staunen zeigte – diese übertriebene, fast vorgetäuschte Überraschung, die man irgendwie nicht verhindern kann, wenn man jemanden interviewt: » Wirklich?! « –, deutete Bunny dann auf Llewis und sagte: »Richtig, Soldier ?« Und Llewis sagte: »Einhundert Prozent richtig.«
    Als Bunny zurückkehrte, war seine Laune gedämpft. Er lehnte sich weiter zurück. Seine Augenlider waren gesenkt und seine Telefone klingelten schrill und vollkommen unbeachtet in seinen Taschen. Sein Schweigen im Monat zuvor wirkte jetzt weit weniger rätselhaft. Ich fragte nach Joe Higgs, dem Mann, der die Wailers erfunden hatte. Higgs ist wirklich ein übersehenes Genie der jamaikanischen Musik. Sein Album Life of Contradiction von 1975, das erst vor Kurzem wiederveröffentlicht wurde, ist gut genug für die berühmte einsame Insel. Er starb ziemlich jung an Krebs. 1959 wurde er während einer Welle von politischen Aufständen durch militante Rastafaris zusammengeschlagen und ins Gefängnis gesteckt (Bunny selbst wurde acht Jahre später wegen Marihuanabesitzes verhaftet).
    Als Higgs entlassen wurde, fing er an, unter einem Obstbaum im Hof seines Hauses zwanglose Musiksessions abzuhalten. »In Trenchtown waren die Höfe damals nicht voneinander getrennt«, sagte Bunny. »Es gab keine Zäune, nichts, und deshalb war Joe Higgs' Hof ein Ort, wo um Geld gespielt wurde, es gab einen Spieltisch, eine Dame, die Frittiertes verkaufte, Bratfisch . . . Es war eine beliebte Ecke.«
    Higgs wurde zum Mentor der Wailers, deren Potenzial er gleich erkannte. Bunny sagte, der ältere Mann habe sogar sei
ne eigene Karriere für ein paar Jahre unterbrochen, um sie auszubilden. »Er hat sich so viel um die Wailers gekümmert«, sagte Bunny, »dass er mehr an die Wailers glaubte als an sich selbst.« Er brachte ihnen Harmonielehre bei, Atemtechnik und die Grundlagen der Komposition, für die sich besonders der junge Bob interessierte. Bunny zufolge glichen Higgs' Methoden denen von Mr. Miyagi, dem Lehrer aus Karate Kid . Er weckte sie um halb zwei in der Nacht, ließ sie spielen und sagte: »Wenn ihr um diese Uhrzeit nicht singen könnt, dann

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