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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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für den ewigen Witwer fast wie ein Sohn. Die Jahre vergingen, Lytles Kräfte ließen nach, und mehr und mehr ging es bei dem Arrangement darum, dass jemand anwesend
war, der Lytle fuhr und Holz für ihn hackte und ihn hören würde, sollte er sich die Hüfte brechen.
    Besonders unter den Literaturstudenten fand sich immer jemand, der das als Privileg verstand. Wir studierten an der University of the South in Sewanee, und Lytle verkörperte den Süden, der letzte Überlebende der Southern Agrarians, der letzte der »Twelve Southerners« mit ihrem Manifest I'll Take My Stand , ein Kamerad der geheiligten Fugitive Poets, seit Kindertagen befreundet mit Allen Tate und Robert Penn Warren, Mentor für Flannery O'Connor und James Dickey und Harry Crews und in den Sechzigern als Redakteur des Sewanee Review einer der ersten, der Cormac McCarthy publiziert hatte. Vergessen Sie nicht, dass die Renaissance der Südstaaten-Literatur Mitte der Neunziger, als ich Lytle kennenlernte, fast völlig zu einem Regionalismus für Fachidioten verkommen war. Dass Lytle immer noch da war, wenn auch nicht in alter Frische, war ein Stolpern der Zeit, das es zu nutzen galt.
    Nicht alle dachten so. Eines Nachts in unserem Freshman-Jahr saß ich mit meinem Mitbewohner Smitty auf dem Boden, einem blonden Jungen aus Atlanta, der höchstens fünfzig Kilo wog und an einer Privatschule vier miserable Jahre lang versucht hatte, ein Beckett-Stück aufführen zu dürfen. Sein bester Freund war ein Junge namens Tweety Bird gewesen. Als ich Smitty kennenlernte, fragte ich ihn nach seiner Lieblingsmusik, und er antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Trompeten.« In jener Nacht redete er über Lytle und wie grotesk und faschistisch er sei. »Weißt du, was Andrew Lytle gesagt hat?«, fragte er und wedelte mit seinem Feuerzeug. »Das Leben ist ein Melodrama. Nur Kunst ist echt.«
    Ich nickte voller Erwartung.
    »Das ist doch schrecklich , oder?«
    Fand ich nicht. Oder vielleicht doch, aber es war mir egal. Ich wusste nicht, was ich fand. Der tragische Zauber des Südens hatte mich erfasst. Entweder man fühlt ihn, oder man
fühlt ihn nicht. In meinem Fall war es akut, weil ich in Indiana mit einem Yankee-Vater aufgewachsen war, auf dessen – und meine – Kentucky-Wurzeln ich übertrieben stolz war. Schon lange hatte ich an mir ein diffuses Nirgendwo-Gefühl beobachtet. Andere hätten es nicht bemerkt, hätten nichts darauf gegeben. Für mich war es ein körperlicher Schmerz. Jetzt endlich war ich irgendwo, nicht länger ohne Ort. Der Süden . . . ich liebte ihn, wie ihn nur jemand lieben kann, der dort immer Außenseiter bleiben wird. Schon das nächtlich ausgesprochene Wort Faulkner verursachte stürmische Gefühle. Ein paar Monate nachdem ich an die Uni kam, las Shelby Foote dort aus seiner Geschichte des Bürgerkriegs. Als er fertig war, erhob sich in der dritten Reihe jemand aus dem Ort, ein Typ mit langen, fettigen weißen Haaren, einem weißen Anzug und Gehstock, und fragte, ob Foote denke, dass der Süden den Krieg hätte gewinnen können, wenn dieser oder jener General dies oder das getan hätte. Foote hatte geantwortet, dass der Norden »diesen Krieg« mit links gewonnen habe. Ein paar Zuschauer stöhnten. Ihre Anteilnahme war ergreifend. Ich konnte nicht anders, als mir Lytle in der Hütte seiner Vorfahren vorzustellen, im Schaukelstuhl vor den brennenden Scheiten, einen Silberbecher aus Familienbesitz mit Bourbon in der Hand und ganz in Gedanken an etwas, das Eudora Welty einmal zu ihm gesagt hatte. Wenn berühmte Schriftsteller die Uni besuchten, wollten sie Lytle treffen. Ich hatte versucht, seine Romane zu lesen, aber mein Verstand perlte an ihnen ab; sie waren undurchdringlich manieriert. Trotzdem hoffte ich darauf, ihm vorgestellt zu werden. Einer meiner Onkel war in den Siebzigern einmal von ihm eingeladen worden und hatte mir berichtet, wie ihn diese Erfahrung verändert habe, wie sie ihn auf Tuchfühlung mit der Wirklichkeit gebracht habe.
     
    Die Umstände, die dann tatsächlich dazu führten, waren so seltsam, dass sie entweder als Beweis für die Wirkkraft des Schicksals oder seine sichere Nicht-Existenz gelten können. Ich war zu dieser Zeit noch nicht einmal mehr Student. Nach meinem zweiten Jahr hatte ich das Studium abgebrochen und war damit meiner Zwangsexmatrikulation aufgrund schlechter Noten zuvorgekommen. Ich lebte zusammen mit einem Freund in Irland, arbeitete in einem Restaurant und konnte mein Geld nicht

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