Pulphead
Priester töteten und die dort lebenden Native Americans versklavten. Disneys Bauunternehmer rodeten Orangenhaine, die zu diesen Missionen gehört hatten. So viel zur Jungfräulichkeit der Neuen Welt.
Am nächsten Morgen hatte Mimi ein blaues Auge, ein richtiges Veilchen. Sie hatte es sich abends bei einem Unfall im Schwimmbad zugezogen. Flora wollte ihr ein Plastikboot zu
werfen. Das Boot erwischte irgendwie einen Luftstrom, segelte für einen Augenblick wie ein Gleiter durch die Luft und traf Mimi – Bug voran – mitten ins Gesicht. Beide Mädchen weinten, meines blutete. Lil' Dog saß wie ein Nix auf seinem aufblasbaren Krokodil und guckte bestürzt. Wir Erwachsenen vollführten das Ritual, einander übertrieben oft zu versichern, dass alles in Ordnung sei, Schwamm drüber, keine Absicht. Trotzdem sah es schlimm aus – und die Antwort auf die kritische Frage einer dauerhaften Narbe war eindeutig unklar.
Das Deprimierende für mich war, dass Mimis Verletzung ihren Enthusiasmus für Disney kein bisschen dämpfte. Vierundzwanzig Stunden zuvor hatte ich meine Hoffnung auf das schlechte Wetter gesetzt, und jetzt hatte ich darauf spekuliert, im Hotel bleiben und ihr Eisbeutel ans Gesicht halten zu können. Wir würden lesen. Kein Problem, ich könnte ihr ja aus meinem Große-Leute-Buch vorlesen. Aber es kam anders: M. J. weckte mich und sagte, ich solle mich anziehen und fertig machen.
Ich ging rüber in das kleine Fernsehzimmer. Shell packte gerade und hatte einen kampfeslustigen Ausdruck im Gesicht. Ich muss ungefähr so geschaut haben wie Lil' Dog am Abend zuvor. »Gehen wir wieder dahin?« Wieso? Wir waren doch gestern schon da! Und ich war nicht mit dem Gefühl ins Bett gegangen, die Möglichkeiten des Parks nicht voll ausgeschöpft zu haben.
Trevor und ich hatten die Sache mit dem Schmierestehen noch zweimal durchgezogen. »Und nicht vergessen«, flüsterte er: »Immer bereit sein, abzuhauen.« Als könnte man in Disney World tatsächlich davonlaufen, wo es überall Kameras gibt und unterirdische Tunnel und eine private Polizeitruppe. Abhauen wohin?
Die Tunnel sind nicht wirklich »unterirdisch«. Das habe ich mal in einer Doku gesehen. Die Tunnel sind das Erdgeschoss. Alles andere ist darüber gebaut. Disney World ist ein riesiger
Mound, einer der größten, die je in Nordamerika gebaut wurden. Wenn man durch den Park läuft, befindet man sich gut viereinhalb Meter über dem Punkt, an dem die Bauarbeiten begannen.
Die Tunnel waren Disney deshalb wichtig, weil so die kostümierten Figuren unsichtbar bleiben konnten, wenn sie gerade nicht auf der Bühne standen. Die Kinder sollten auf keinen Fall sehen, wie Pluto nach Schichtende in den Pausenraum latscht. In Disney World sind die Figuren nur zu sehen, wenn sie zu sehen sein sollen; anschließend verschwinden sie wieder.
Im größeren Maßstab gilt das für das gesamte Gelände: Wenn man von einem der Themenparks – Magic Kingdom, Typhoon Lagoon, Epcot etc. – zu einem anderen will, kommt man an riesigen Brachflächen vorbei, an sorgsam gepflegter Leere. Diese Freiflächen waren Disney auf eine Art wichtiger als irgendeine Attraktion des Parks. Die Leinwand musste weiß sein.
Auch dieser Tag brachte äquatoriale Hitze, die einen fast körperlich bedrängte. Die Schultern der Unterhemdmänner um uns herum verfärbten sich krebsverheißend. Psychische Ausgeglichenheit war nötig, um für diese langen Tage des Vergnügens gewappnet zu sein. Wir hatten den Parkplatz noch nicht verlassen, als sich die drei Kinder schon zankten, wer im Kinderwagen sitzen durfte. Die Mädchen gewannen. Mimi und Flora saßen nebeneinander, eine zweiköpfige Galionsfigur, den Blick stolz nach vorne gerichtet, und bespritznebelten sich. Mimi mit ihrem lila Auge. Irgendwie blieb es an mir hängen, Lil' Dog zu tragen. Der Weg durch diese leer daliegende Fata Morgana war zu weit für seine kleinen Füße. Lil' Dogs Gewicht oder besser gesagt: seine Körperdichte ist irgendwie unnatürlich. Nicht von dieser Welt. Es war, als würde ich einen Meteoriten befördern. Beide Mädchen zu tragen wäre leichter gewesen.
Als wir Epcot betraten, fing Trevor sofort an, auf sein Tele
fon zu sehen. Ich will Sie nicht mit den Details langweilen, nichts ist so langweilig wie Kiffergeschichten; es genügt zu sagen, dass wir den Rest des Tages pendelnd zwischen zwei Zuständen verbrachten: hier die ekstatische, überaufmerksame Vaterschaft, dort die Hingabe an Sucht und Laster.
Man mag
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